Wendeherbst 1989 Friedliche Wende nicht ohne Widerstand
Klietz l "Papa, warum hast du Tränchen?" Die dreijährige Mechthild schaute ihren Vati Tobias Eichenberg besorgt an. Der hatte im Radio gerade gehört, dass die Mauer gefallen ist. "Die ganzen Gefühle kamen hoch. Endlich ist das Eingesperrtsein vorbei! Meine Oma hatte in Hamburg gelebt und meine Mutter durfte damals nicht mal zu ihrer Beerdigung fahren", erzählt Tobias Eichenberg, der heute Pfarrer in Röxe ist. Damals, im Oktober 1989, packten er und seine Frau gerade die Umzugskisten im Klietzer Pfarrhaus aus. Welch bewegende Zeit ihm in seinem neu zugeteilten Pfarrbereich erwarten würde, ahnte er nicht. "Ja, und dann kam die Wende über uns. Wie sagte jemand aus Klietz so trefflich: Die Zeit der Ängste ist endlich vorbei!"
Ganz leicht ist es heute, 25 Jahre später, nicht mehr, in den Erinnerungen zu graben. Kalendereintragungen helfen ihm, "vielleicht hätte man doch Tagebuch schreiben sollen", entschuldigt er sich im Volksstimme-Gespräch über die etwas lückenhaften Erinnerungen.
Am 21. Dezember Zutritt zum "Schweigenden Stern"
Auch Ulrich Schade muss etwas überlegen, kann sich nicht ganz genau erinnern, wann die ersten Proteste in Klietz begannen. Als katholischer Pfarrer war er 1985 nach Klietz gekommen, jetzt betreut er die Gemeinde in Delitzsch, lebt in Eilenberg. "Ich war gerade aus dem Urlaub gekommen, da ging es so langsam los. Zusammen mit Pfarrer Wolff in Havelberg war ich bei den Friedensgebeten und den Montagsdemos dabei. In Klietz kamen einige Mitglieder der Liberal Demokratischen Partei Deutschlands, LDPD, auf mich zu und baten, die Kirche für Friedensgebete zu öffnen. Die Kirche war dann auch sehr voll, die 60 Sitzplätze reichten nicht aus. Allerdings waren nicht alle Sympathisanten der Wende, sondern es gab etliche, die am System festhielten. So manche unschönen Auseinandersetzungen haben sich abgespielt. Am NVA-Standort Klietz lebten viele Offiziere und Soldaten, und selbst die Zivilbeschäftigten trauten sich vor den Augen der Uniformierten ja nichts zu sagen." Ulrich Schade erinnert sich noch an seine Verwunderung, dass an so vielen Haustürschildern Namen mit einem Doktortitel versehen waren. "Dass in so einer kleiner Gemeinde so viele Akademiker leben, konnte ich erst gar nicht verstehen, bis ich dann die Hintergründe und vom sogenannten ,Schweigenden Stern` in Walde hörte." Was sich hier hinter den Toren des "Militärpolitischen Institutes" abspielte, wollte die Klietzer Protestbewegung gern wissen. "Wir schafften es, dass uns ein paar Wochen nach dem Fall der Mauer Zutritt gewährt wurde", hat Tobias Eichenberg dieses Datum, den 21. Dezember, nicht vergessen. "Es wusste ja niemand, was dort oben überhaupt war. Offiziersausbildung - mehr drang nicht nach außen. Und viel schlauer waren wir nach unserem Besuch auch nicht. Auf unsere Fragen wurde kaum geantwortet, wir hörten nur, was wir ohnehin wussten, alles wurde bagatellisiert. Wir hatten den Eindruck, dass man uns an der Nase herumführt", ergänzt Ulrich Schade.
Rückblickend bezeichnet er die Wendezeit in Klietz als "nicht einfach. Uns hat viel Gegenwind ins Gesicht geblasen". Er erzählt von anonymen Briefen, die die Mitglieder der LDPD erhielten. Darin wurden Drohungen ausgesprochen wie "Wir reißen euch den Arsch auf" oder "Wir drehen euch den Hals um". Damit hatten die Empfänger sehr zu kämpfen.
Unter Beobachtung der Stasi
Die Zeit Ende der 80er Jahre, als sich noch kaum jemand wagte, gegen die Staatsmacht zu rebellieren, bezeichnet der katholische Pfarrer als reizvoll. "Ich habe dem System kritisch gegenübergestanden und so manches im Verborgenen getan." Dass die Stasi ihn deshalb im Visier hatte, ahnte Ulrich Schade - Bestätigung gab es, als er seine Stasi-Unterlagen einsehen konnte, "ich stand quasi rund um die Uhr unter Beobachtung". Denn Ulrich Schade hatte West-Kontakte. Eine alte Dame aus Westberlin beispielsweise kam einmal im Jahr zu Besuch und eine befreundete Familie aus Oberhausen auch. Die hatte er in Rom kennengelernt, als er die Gelegenheit hatte, Papst Johannes Paul II. zu treffen. "Und dann übernachteten im Pfarrhaus auch öfters die Frauen der sogenannten Spatensoldaten, die anstelle des Dienstes an der Waffe in Klietz Bauarbeiten erledigen mussten." Die meist systemkritischen jungen Männer stellten ihre Motorräder bei ihm unter und es gab viele vertrauliche Gespräche.
Die Wende war auch in Klietz unaufhaltbar. Es gab Friedensgebete und das sich am Runden Tisch formierende Bürgerforum wuchs stetig an. "Zum Jahresanfang 1990 haben wir uns auf die ersten freien Wahlen vorbereitet. Wir bildeten die erste freie Wählergemeinschaft und mit Jürgen Masch stellten wir auch einen Bürgermeisterkandidaten, der bis heute im Amt ist."
1991 hat Ulrich Schade Klietz verlassen. Tobias Eichenberg, dessen Familie von drei auf fünf Kinder angewachsen ist, wechselte zehn Jahre später die Pfarrstelle nach Stendal. Die Wende gehört für beide zu den bewegendsten Zeiten im Leben.