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Historisches Havelberger Allerlei: Mehrere Generationen führten erfolgreich Kolonialwaren-Großhandlung Havelberger kauften gern bei "Zuckerbahns" ein

Von Wolfgang Masur 20.08.2011, 04:24

"Historisches Havelberger Allerlei", Band III, wird das neue Buch heißen, das der Havelberger Autor Wolfgang Masur im Dezember dieses Jahres herausbringt. Die Volksstimme beginnt heute mit der Veröffentlichung der ersten Geschichte, einem Beitrag über die Kolonialwaren-Großhandlung von J. C. Bahn.

Havelberg. "In Havelberg, dem norddeutschen Rothenburg, wird der Fremdling kaum den Pulsschlag regen Handels und Wandels vermuten. Lieblich und malerisch schön ragt die alte Bischofstadt hervor in der sonst so herben märkischen Heide, und immer wieder lockt es Maler und Lichtbildner hierher. Es fehlt wahrlich nicht an Motiven, die das Auge erfreuen, die den Künstler begeistern. Die günstige Lage Havelbergs an der Havelmündung in die Elbe ist durchaus angetan, rege Handelsbeziehungen zwischen Lieferanten im Reiche und Abnehmern in und um Havelberg herzustellen. Feiert doch in diesem Jahre ein altes Handelshaus, die Kolonialwaren-Großhandlung ,J. C. Bahn\' das Jubiläum des hundertjährigen Bestehens". Diese Zeilen konnte man 1935 auf der Titelseite der Festzeitschrift zum Jubiläum der Großhandlung "J. C. Bahn" lesen.

Der Landwirt und Brauer Johann Carl Bahn hatte in der Mühlenstraße 2-3 eine kleine, gutgehende Brauerei, in der das sogenannte Stettiner Bier gebraut wurde. Ein leichtes, helles Braubier. 1835 bot sich für Johann Carl Bahn eine günstige Gelegenheit, von der Firma "Jahn Calame" das Nachbargrundstück 4-5 zu erwerben und die Zuckersiederei zu übernehmen. So lohnend wie die Brauerei war die Zuckersiederei nicht, und so schlug Johann Carl Bahn seinem erstgeborenen Sohn Eduard Wilhelm vor, neben der Siederei ein Kolonialwarengeschäft zu betreiben.

Eduard Wilhelm Bahn gründete 1835 in der Mühlenstraße 5 das Kolonialwarengeschäft "J. C. Bahn" und 1848 trat auch der zweite Sohn von Johann Carl Bahn, der Pastor Ferdinand Ludwig Bahn, in die Firma ein. Das Unternehmen hatte schnell bei der Kundschaft und den Lieferanten einen guten Ruf. Frische Gelder flossen der neuen Firma zu und gestatteten den rührigen Inhabern, sich einen gewaltigen Fortschritt der Technik nutzbar zu machen. In der Zuckersiederei wurde der Dampfbetrieb eingeführt. Ein enormer Fortschritt in dieser Zeit. Nebenher blühte das Kolonialwarengeschäft.

Es war aber trotzdem ein mühseliges Arbeiten in dieser Zeit. Die Lehrlinge klebten Tüten, um die Tütenfabriken zu entlasten. Sie mussten auch vor Beginn der Dunkelheit die Rüböllampen fertigmachen, so dass die Arbeit weitergehen konnte. Erst 1864 bekam Havelberg die epochemachende Gasbeleuchtung.

Johann Carl Bahn verstarb 1867 und Mitte der 1870er Jahre kam der Zusammenbruch der Firma. Hohe Arbeitslöhne, eine große Überschwemmung 1876 und die erlittenen Verluste ließen die Söhne der Firma "J. C. Bahn" zur Liquidation schreiten. Freunde und gute Bekannte halfen aber mit, dass der Enkel von Johann Carl Bahn, Eduard Wilhelms Sohn, er hieß Johannes Carl Bahn, das liquidierte Geschäft wiedereröffnete. Es ging aufwärts. Die harte Arbeit machte sich bald bezahlt. Weitere Lehrlinge und Hilfsarbeiter wurden eingestellt. Ein neues Gespann musste her, um die zunehmenden Bestellungen auszuliefern. Am 1. August 1913 wurden Max Lucke und Paul Borchert - sie hatten mit Johannes Carl Bahn das Unternehmen wieder aufgebaut - Teilhaber der Firma. Aber nur ein Jahr später wurden sie in den Krieg einberufen und so lastete noch einmal die ganze Verantwortung auf den Schultern des alten Herrn. Max Lucke hatte aber das Glück, Ende 1914 vom östlichen Kriegsschauplatz als garnisonsdienstfähig nach Havelberg versetzt zu werden. Er konnte sich somit wieder dem Geschäft widmen. Paul Borchert war bis zum Kriegsende Frontsoldat. Johannes Carl Bahn hatte das Geschäft zur höchsten Blüte geführt, so dass es allen Wirren und Krisen der Nachkriegszeit zu trotzen vermochte.

Das unrühmliche Ende dieses Krieges, den Frieden der Schmach, erlebte Johannes Carl Bahn noch. Die katastrophalen Wirren der Nachkriegsjahre blieben ihm erspart. Trotz der vielen Arbeit, die ihm das Geschäft aufbürdete, fand er noch die Zeit als Ratsherr, als Vorsitzender im Kuratorium der Stadtsparkasse, als Leiter des Verschönerungsvereins von Havelberg und als Gemeinderat in uneigennütziger Weise für seine Vaterstadt zu wirken. Am 19. Februar 1919 verstarb Johannes Carl Bahn.

Paul Borchert und Max Lucke treten als Inhaber das Erbe an. Schwere Zeiten in den Nachkriegsjahren folgten. Die Inflation setzte allen zu. In den Geschäftsbüchern von 1923 kann man nachlesen, dass am 12. November ein Sack Zucker elf Billionen Papiermark - eine 11 mit zwölf Nullen - gekostet hat. Es ging trotzdem immer weiter aufwärts. Die Zahl der Angestellten hatte sich sogar verdoppelt. Die Kundentreue trug zum Aufschwung bei. Am 29. März 1924 hat die Firma in Rücksicht auf die Einzelhandelsinteressen der in Havelberg ortsansässigen Geschäfte das eigene Ladengeschäft nach 89 Jahren geschlossen. Seitdem setzte sich die Kundschaft ausschließlich aus Wiederverkäufern zusammen. Darunter waren viele Geschäftsfreunde, die zu persönlichen Freunden der Inhaber wurden. Seit Jahrzehnten hielten sie "J. C. Bahn" die Treue, denn schon ihre Eltern und Großeltern kauften bei "Zuckerbahns", wie die Firma im Volksmund genannt wurde. Das "J" in der Firmenabkürzung, es stammte vom "Vater des Gedankens" der Firma, Johann Carl Bahn, wurde von den Domstädtern immer als "I" gelesen und so sagte man kurz "I. C. Bahn".

Die Havelbergerin Ilse Gielke erinnert sich gerne an den Kolonialwaren-Großhandel, denn hier hatte sie von 1939 bis 1941 als Lageristin gearbeitet. "Es gab immer etwas zu lachen, obwohl wir hart arbeiten mussten. Nach 1941 war ich für drei Jahre nach Glöwen in das Lazarett verpflichtet worden. Ich war Vertragsangestellte der Wehrmacht. 1944 ging ich wieder zurück. Der Name ,J. C. Bahn\' ist immer geblieben, auch als es später das Revisionslager der brandenburgischen Konsumgenossenschaften war. Die Lager- und Betriebsräume befanden sich alle auf der großen Hofanlage in Richtung Havelvorland, der sogenannten Avus. Die ausgelieferten Waren gingen hoch bis nach Abbendorf und noch weiter in die Prignitz. Die Lehrlinge und auch die Beschäftigten durften bei Paul Borchert vor 9 Uhr nicht die Toilette benutzen. Das gehe von der Arbeitszeit ab, sagte Borchert immer. Wer aber wirklich einmal dringend aufs Klo musste, schlich sich zur benachbarten Gaststätte von Luise Bastrop.

Einige Kaufmanns-Lehrlinge wie zum Beispiel Heinz Runge, Gerd Windisch oder Willi Rensch hatten ein schweres Los bei Paul Borchert", erinnert sich die Seniorin. Denn wenn sie etwas ausgefressen hatten, mussten sie zur Strafe auf der Straße ganz laut zehnmal hintereinander: "Ich bin ein großer Dussel" rufen. "Die Fenster der Anwohner gingen auf, Passanten blieben stehen, und wir hatten wieder einmal etwas zum Lachen. Die Jungs mussten Soldatenpäckchen packen und sie dann bei Paul Borchert vorzeigen. Dann hallte es laut ,falsch!\' durch das Haus und Paul Borchert warf das Päckchen die Treppe runter. Ich habe einmal eins aufgehoben und es später wieder hochgetragen, ohne etwas daran zu verändern. Paul Borchert hat alle Jungs zusammengetrommelt und mich vor versammelter Mannschaft gelobt. So müsse ein Soldatenpäckchen aussehen..." Ein Teil der Lehrlinge hat, so erzählt Ilse Gielke weiter, in der Jugendherberge in der Mühlenstraße gewohnt. Sie befand sich auf dem Firmengelände. "Ich hatte dort mal eine Ratte gefangen und sie den Jungs geschenkt, denn die bekamen für jede gefangene Ratte eine Mark von Paul Borchert." In den Lagerhallen gab es fast alles. Säckeweise standen dort Lebensmittel. Fritz Rogge, Arnold Fister und Werner Telchow waren drei der vielen Kraftfahrer.

Im Dezember 1948 war der Oberbürgermeister von Ost-Berlin, Friedrich Ebert, in Havelberg zu Gast. In der Gaststätte "Deutsches Haus", in der Pritzwalker Straße, hielt er einen Vortrag. Es ging um das Thema "Kampf gegen Wucherer und das Schiebertum". Ilse Gielke: "Es wusste aber niemand, dass wir in der Zeit, in der der Oberbürgermeister seinen Vortrag hielt, ihm das Auto mit Schieberware vollpackten. Seife, Persil, Sunlicht und vieles mehr wurde verstaut."

Paul Borchert war sehr streng, aber das tat vielen gut, denn man lernte etwas bei ihm, erzählt die Seniorin weiter. "Der Duft seiner fast immer brennenden Zigarre verriet oft sein Erscheinen. Ein Leierkastenmann machte in der Mühlenstraße unter dem Fenster des Lehrers Wolf einmal Musik. Der Lehrer gab ihm dafür zwei Mark und schickte den Leierkastenmann mit den Worten ,Der Herr da drüben mag Musik\', zum Fenster von Paul Borchert. Der fiel aus allen Wolken, denn er wollte seine Ruhe haben. Er zückte fünf Mark, gab sie dem Leierkastenmann und bat ihn darum, mit dem Musizieren aufzuhören. Mehr und schneller kann man kein Geld verdienen, freute sich der Drehorgelspieler und zog davon.

In der Bahnhofstraße besaß die Firma "J. C. Bahn" an der Krananlage noch ein großes Zwischenlager. Später war dort die Konsumverwaltung in der Mühlenstraße ansässig. Die Deko-Abteilung war hier zu finden, Obst und Gemüse wurde aufgekauft und auch der Weihnachtsbaumverkauf fand über viele Jahre hier statt.

Nach der Wende wurde das Haus in der Mühlenstraße 2-3 fachgerecht und unter Auflagen des Denkmalschutzes saniert. Die Fassade wurde mit ihren Verzierungen erhalten. Die Hauseingangstür und das Tor zum Hinterhaus sind noch erhalten. Von den einstigen Lagerräumen, Stallungen und Garagen ist nichts mehr zu finden. Eine moderne Hinterhofgestaltung wurde hier zur Freude der Mieter vorgenommen.