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Havelberger Dialoge Kreis Stendal: „Dialog“ mit Anetta Kahane über Lebensgeschichten

Anetta Kahane zeigt in den „Havelberger Dialogen“ in Havelberg im Kreis Stendal auf, wie konfliktreich jüdisches Leben ist. Es gilt, immer wieder neu anzufangen.

Von Max Tietze 10.11.2023, 19:43
Autorin und Herausgeberin Anetta Kahanewar zu Gast in Havelberg bei der "Dialog"-Reihe zum Thema "Lebensgeschichten.
Autorin und Herausgeberin Anetta Kahanewar zu Gast in Havelberg bei der "Dialog"-Reihe zum Thema "Lebensgeschichten. Foto: Max Tietze

Havelberg. - Die Antonio Amadeu Stiftung, deren Anliegen die Stärkung der Zivilgesellschaft ist, feierte in Berlin ihr 25-jähriges Bestehen. Initiatorin Anetta Kahane war bei diesem Fest nicht dabei, es gab etwas, was sie bewegte, Havelberg an diesem Tag den Vorzug zu geben. Zum ersten Mal kam sie in die kleine Stadt im Kreis Stendal, in der ihr Großvater die Shoa überlebte und dadurch nach der Befreiung 1945 nach Berlin zurückkehren konnte.

Großeltern und Havelberg

Vor dem „Dialog“-Abend ging Anetta Kahane durch die Straßen von Havelberg, sah den Ort, der für ihre Familie so bedeutend war. Mit dabei Pfarrer Teja Begrich und Museologin Antje Reichel.

Der Abend stand unter dem Eindruck von Anetta Kahane und ihrer Lebensgeschichte, die sehr viel Weltgeschichte beinhaltet. Sie sagte: „Ich bin die Enkeltochter von Jacob Kahane, das ist der Grund, heute in Havelberg zu sein. Ich bin in Ostberlin geboren, wir sind eine jüdische Familie. Mein Vater Max Kahane war Auslandskorrespondent. Das eröffnete den Blick in die Welt. Schon als Kind.“

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Ihre Großeltern waren schon seit den 1920-er Jahren mit Gerhard Hagemann aus Havelberg befreundet. Nach den ersten Angriffen und Deportationen in Berlin bekam Jacob Kahane neue Papiere durch die Hilfe von Gerhard Hagemann. Die Papiere waren die Rettung für die Großeltern und die Tante, denn zum Flüchten in das Ausland fehlte Geld. Mit ihrer Geschichte über drei Rabbiner und deren Auseinandersetzung im Angesicht von Ausweglosigkeit machte sie deutlich, womit jüdische Menschen wiederholt konfrontiert werden, seit Jahrhunderten. Sie sagte: „Juden müssen immer wieder neu anfangen und Lösungen finden.“

Konflikte und Anpassung

Anetta Kahane engagiert sich mit ihrer Stiftung gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Ihr Buch „Juden in der DDR“ gab sie 2021 zusammen mit Martin Jander heraus. Es beschreibt in Porträts unter anderem über Jurek Becker, Wolf Biermann oder Stefan Heym, wie Juden sich im östlichen Nachkriegsdeutschland und in der DDR zurechtfanden, sich an die Bedingungen anpassten und schildert Probleme und Konflikte. Anetta Kahane stellte in Havelberg das von ihr geschriebene Kapitel über Victor Klemperer in den Mittelpunkt. Auch spielen familiäre Verbindungen hinein, wenn sie von Onkel Victor spricht, von seinem Überleben.

Tagebücher

Victor Klemperer ist durch seine Tagebuchaufzeichnungen auch heute noch ein Begriff. Mit „LTI – Die Sprache des dritten Reiches“ gab er nicht nur Anetta Kahane Anregungen, über totalitäre Sprache nachzudenken.

Über sein Werk sagte Anetta Kahane: „Es ist ein einzigartiges Zeugnis von der Kaiserzeit, über Weimar, über den Nationalsozialismus bis in die DDR. Es ist seine Widersprüchlichkeit.“ Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer wird heute als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft beschrieben, ein Jude, der zum Christentum übergetreten war. Er wollte zum Deutschen dazugehören und wurde freiwillig Soldat im 1. Weltkrieg.

Kahane wies auf den Konflikt eines Menschen hin, der die französische Literatur achtete, aber im Krieg gegen Frankreich kämpfen sollte. 1933 und die folgenden Jahre sorgten für Erschütterung bei Klemperer, er verlor seine Professur in Dresden. Er konzentrierte sich auf das Tagebuchschreiben, auf die Analyse der Sprache der Nationalsozialisten. Das Weiterleben nach 1945 war keineswegs konfliktfrei, Klemperer sah Russland als Schutzmacht, erkannte im Westen, dass ehemalige NS-Leute wieder an Einfluss gewannen.

Ergreifendes Leben

Der autoritäre Charakter der DDR trat immer mehr zu Tage. Und er nahm sich als Jude deutschen Glaubens wahr. Er übersah nach den Worten von Anetta Kahane den Antisemitismus in der DDR. Sie schilderte auch ihre eigenen Erfahrungen, wie sie als Kind andere Kinder aus jüdischen Familien kennenlernte, wo man sich gegenseitig erkannte, ohne über Jüdisches zu sprechen.

Nach den Worten der Zuhörer war es wieder eine interessante, ergreifende Lebensgeschichte, die vor Augen führt, dass Antisemitismus nie weg war. Der Abend wurde mit Orgelmusik von Domkantor Matthias Bensch umrahmt.