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Traditionsbetrieb Wechsel bei Reifen-Wollgast

Nach über 70 Jahren ist eine Ära in Havelberg zu Ende gegangen. Die Firma Wollgast hat einen neuen Inhaber.

Von Wolfgang Masur 05.04.2019, 23:01

Havelberg l Robert Wollgast, Sohn von Firmengründer Georg Wollgast, übernahm 1978 den väterlichen Betrieb in der Bahnhofstraße. Seine Ehefrau Renate, die zuvor in der Lohnbuchhaltung im VEB Polstermöbel beschäftigt war, übernahm die Buchhaltung. „Ich hatte schon immer bei meinem Vater gerne in der Werkstatt geholfen und großes Interesse am Beruf des Vulkaniseurs gezeigt, den ich dann auch von 1966 bis 1968 in Arendsee erlernte. Später machte ich dann auch meinen Meister“, blickt Robert Wollgast zurück.

In der Werkstatt in der Bahnhofstraße, die zum Kohlehandel gehörte und in der sogar Traktoren standen, wurden damals noch Gummistiefel, Fahrradschläuche und ähnliche Dinge repariert. Das änderte sich schnell und bald wurde es in der Bahnhofstraße zu eng, denn die Zahl der Autobesitzer stieg und die Fahrzeuge wurden größer. „Ganz gleich, ob Kleinwagen oder 40-Tonner: Ohne funktionstüchtige Reifen ist eine sichere Fahrt kaum möglich. Für die reibungslose Reise von A nach B mit Pkw, Lkw oder Zweirad sorgt der Vulkaniseur. Er kontrolliert den Luftdruck, zieht neue Reifen auf, prüft und optimiert das Fahrwerk und repariert und runderneuert noch brauchbare Reifen. Außerdem analysiert er die Rolleigenschaften und wuchtet Reifen aus. Dazu bringt er kleine Gewichte am Reifen an, damit diese rund und gleichmäßig laufen. Er berät die Kunden beim Neukauf hinsichtlich des richtigen Reifentyps und beurteilt den Zustand der Reifen. Welche Reifentypen gibt es? Wie sieht die Lauffläche aus? Hat der Reifen noch genug Profil?“ umschreibt Robert Wollgast einen Teil seines Berufes.

Zu DDR-Zeiten wurden wegen der ständig herrschenden Materialknappheit große Mengen von Reifen runderneuert. „Die alten Reifen wurden abgeschliffen und dann wurde neuer Gummi ,ran gekocht‘, in dem dann das neue Profil entstand. Da hatte die Redewendung ,Gib Gummi!‘ noch eine andere Bedeutung“, scherzt Robert Wollgast.

Da die Reifen früher so knapp waren, haben Kaufinteressenten, die wussten, wann es neue Reifen gab, schon morgens um vier Uhr mit einem Campingstuhl vor der Tür in der Bahnhofstraße gesessen.

1992 zog die Firma in das Havelberger Gewerbegebiet/Nord. Das war gerade erschlossen worden. Etwa zwanzig Leute bemühten sich um die Plätze, letztendlich sind nur vier Interessenten übriggeblieben.

Das Wichtigste, was Renate und Robert Wollgast aus dem väterlichen und sogar großväterlichen Betrieb – der Großvater hatte in Perleberg eine Werkstatt – übernommen haben: Die Zufriedenheit der Kunden steht an erster Stelle. Das ist bis zum letzten Arbeitstag so geblieben und soll natürlich weiterhin so sein. „Wir haben über 1000 Kunden aus Havelberg und der näheren Umgebung. Dabei ist uns auch immer schon die Reparatur von Großreifen für die Landwirtschaft und für Baubetriebe sehr wichtig gewesen. Mit der Bundeswehr in Klietz hatten wir eine Vereinbarung, dass wir von ihnen Zivilangestellte im Reifendienst mit beschäftigen und anlernen“, erzählt Renate Wollgast.

Aufgrund der sich ständig weiterentwickelnden Technologien unterliegt das Anforderungsprofil des Vulkaniseurs einem raschen Wandel und erfordert ständiges Training und Weiterbildung, um bei den neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu sein. Diesen Anforderungen stellten sich die Eheleute Wollgast und ihre Mitarbeiter immer wieder und „blieben am Ball“.

Aber es gab in der über 40-jährigen Berufsgeschichte auch dunkle Seiten: Am 27. August 2006 zogen schwarze Wolken über den Firmensitz. Ein Großbrand vernichtete all das, was Renate und Robert Wollgast aufgebaut hatten. „Wir waren am Boden zerstört. Tränen flossen und das Ganze hat uns total runtergezogen“, blicken sie auf das Ereignis zurück. Aber der Blick ging trotzdem wieder nach vorn. In einer alten Kartoffelhalle in der Pritzwalker Straße ging der Betrieb zunächst weiter. „Wir hatten kurz mit dem Gedanken des Aufhörens gespielt. Aber altersmäßig und auch wegen der vielen Kunden kam das nicht in Frage. Es gehörten viel Kraft, Mut und Ausdauer dazu, den Betrieb wieder aufzubauen. Freunde und Bekannte sowie zahlreiche Stammkunden ermutigten uns, weiterzumachen. Und wir schafften den Neuanfang!“

Für ihr gemeinsames Hobby, das Segeln, das sie von Roberts Eltern übernommen hatten, blieb kaum Zeit. Auch nicht für den „Radsportverein Orkan“, den Robert Wollgast mitgegründet hat. „Wir hatten ja an den Samstagen das Geschäft immer bis 12 Uhr geöffnet und da war dann schon ein halber Tag vom Wochenende vorüber“, bedauert Renate Wollgast. Jetzt, im Rentenalter, wollen sie ihren geliebten Segelsport genießen, den Kontakt zu ihren beiden Kindern, die in Magdeburg und Hannover leben, weiter beibehalten und sie freuen sich auf die Freizeit mit den fünf Enkelkindern. Kurzzeitig wird Robert Wollgast noch im Betrieb bleiben, um seinen Nachfolger, der jetzt seinen Meister absolviert, zu begleiten. Nachfolger und neuer Inhaber wird der 32-jährige Havelberger Steffen Gaßmann. Mit seiner Lebensgefährtin Nadine Blum, die zuvor in einem Autohaus tätig war, kann Steffen Gaßmann auf einen Traditionsbetrieb aufbauen, der als Wollgast Reifen & Autoservice weiterhin den Namen behält. „Mein Bestreben ist es, das Traditionsunternehmen mit hoher Qualität und viel Engagement weiterzuführen.“

„Wir bedanken uns bei allen Kunden und Geschäftspartnern für die jahrelange Treue sowie gute und Zusammenarbeit“, sagten Renate und Robert Wollgast zum Abschied.