Flüchtlinge Wie eine Abschiebung eine Familie entzweit
Die Abschiebung einer Familie aus Armenien ist in Magdeburg nicht ohne Probleme verlaufen. Zwei Kinder flüchteten.
Magdeburg l Eine Welle der Solidarität hat die Abschiebung einer Familie aus Magdeburg-Neustadt ausgelöst. Die Abschiebung fand am 7. Dezember 2020 statt. Abgeschoben werden sollte eine Familie aus Armenien mit vier Kindern im Alter von 3, 7, 11 und 13 Jahren. Doch in der Gemengelage vor Ort flüchteten die 13-jährige Tochter und der 11-jährige Sohn aus dem Transporter, den die Polizei nutzte. Über mehrere Tage war nicht klar, wo sie sich aufhielten.
Das Mädchen ist inzwischen wieder aufgetaucht und in die Obhut einer psychiatrischen Klinik übergeben worden. Der Aufenthalt des 11-jährigen Sohnes sei nach wie vor unbekannt, auch die Familienangehörigen wüssten nicht, wo sich der Junge aufhält, sagen der Vater Mraz Amadyan und der Onkel des Jungen, Aziz Arabyan. Nach der Flucht der beiden älteren Kinder wurde die Familie getrennt. Der Vater darf zunächst in Deutschland bleiben, bis auch der Sohn wieder aufgefunden ist. Die Mutter ist mit den beiden jüngeren Kindern bereits nach Armenien abgeschoben worden. Die Perspektiven auf die Abschiebung sind sehr unterschiedlich:
Die Familie „Die Abschiebung meiner Schwester und der beiden Kinder ist nicht rechtmäßig“, sagt Aziz Arabyan. Weder die Mutter noch die beiden Kinder hätten gültige Ausweisdokumente. Zudem habe die Mutter psychische Probleme gehabt, sei bereits bei einem Psychologen in Behandlung gewesen. In Armenien herrsche derzeit Krieg. Die entfernten Bekannten der Familie hätten genügend Probleme damit sich selbst zu versorgen und zu schützen, könnten sich nicht um die Mutter und die beiden Kinder kümmern. Erschwerend komme hinzu, dass weder die Mutter noch die Kinder Armenisch sprechen würden. „Meine Schwester kam als Zehnjährige nach Deutschland, die Kinder kennen nichts anderes als Deutschland, sie sind hier geboren und aufgewachsen“, sagt Aziz Arabyan.
Was ihn besonders ärgere, sei das harte Vorgehen der Behörden. Die Familie sei "wie Vieh" transportiert worden, schildert Aziz Arabyan. In dem Bulli, in den die Familie gebracht worden sei, habe es keine Sitze gegeben, behauptet er. Seine Schwester sei bei der Abschiebung ohnmächtig geworden und habe ihm erzählt, dass sie erst während der Fahrt wieder zu sich gekommen sei – auf dem Boden liegend und einen Fuß im Gesicht. Mit 14 Gepäckstücken und zwei kleinen Kindern sei sie am Flughafen abgesetzt worden und habe dann selbst zusehen müssen, wie sie zurechtkomme. Während der Abschiebung habe zudem einer der Polizisten eine Waffe gezogen.
Der Vater, mit dem die Volksstimme bereits vergangene Woche gesprochen hat, wirkt sichtlich mitgenommen. Nicht nur, dass seine beiden Kinder nicht aufzufinden seien, auch das Schloss zur Wohnung der Familie sei durch die Behörden zu diesem Zeitpunkt bereits ausgetauscht worden, so dass der Vater nicht in die Wohnung zurückkehren konnte. Die Behörden hätten ihm stattdessen ein Zimmer in einer Asylunterkunft zugewiesen.
Als seine Schwester sich in Deutschland in ihren Mann verliebt habe, hätten ihre Eltern die Beziehung nicht gewollt, erzählt der Bruder Aziz Arabyan. Mit 17 Jahren sei sie von zu Hause weggelaufen, um mit ihrem Mann leben zu können. Unter falschen Namen hätten sich die beiden als syrische Flüchtlinge ausgegeben, um einen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu bekommen. Um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, hätten sie schließlich ihre wahre Identität preisgegeben. Seine Schwester Nigar Arabyan habe bis zum Corona-Lockdown in einem Café gearbeitet, ihr Mann bei einem Lebensmittellieferanten.
„Die Familie schien jetzt auf einem guten Weg zu sein und das Leben in die richtigen Bahnen zu lenken“, sagt Pfarrerin Petra Albert, die auch Mitglied der Härtefallkommission des Innenministeriums von Sachsen-Anhalt ist und den Fall dadurch kennt. Es habe Ausschlussgründe gegeben, warum der Fall dort gar nicht erst behandelt wurde. Unter anderem habe auch die Täuschung über die wahre Identität eine Rolle dabei gespielt. Sie bedauert, dass für die Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen seien, keine Ausnahme gemacht werde. Ihr gehe es vor allem um die Kinder. Erstaunt sei sie, dass die Abschiebung nach der Flucht der beiden Kinder nicht abgebrochen worden sei. „Eigentlich galt immer der Grundsatz, dass Familien nicht getrennt werden sollten“, sagt sie. Die rechtliche Lage gebe es jedoch her, weiß Albert. Im Sinne der Familie sei das aber nicht.
Schulsozialarbeiter Torsten Boek Mit Solidarität und Traurigkeit konfrontiert sieht sich Schulsozialarbeiter Torsten Boek von der Grundschule An der Klosterwuhne. Die siebenjährige Tochter, die nun bereits in Armenien ist, sei „ein ganz liebenswertes, freundliches Mädchen“, beschreibt er sie. Er bestätigt: Die Kinder der Familie sprechen nur Deutsch, seien gut integriert und „nur als Deutsche wahrgenommen worden“. Die Mitschüler würden die Siebenjährige sehr vermissen und sich wünschen, dass sie wieder zurückkommen darf. Auch von der Integrierten Gesamtschule Regine Hildebrandt, wo die beiden älteren Kinder zur Schule gingen, gebe es Solidaritätsbekundungen, haben Schüler Plakate gemalt, auf denen sie zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Mitschüler schätzen und sie vermissen würden.
Pressestelle der Stadt Magdeburg Die Stadt Magdeburg erklärt auf Volksstimme-Nachfrage, dass die Familie bereits seit 2006 ausreisepflichtig sei. „Der Aufenthalt der Eltern war und ist geprägt von Falschangaben und Täuschung der Behörden“, informiert die Pressestelle der Stadt Magdeburg auf Nachfrage. Wegen der mehr als zehn Jahre andauernden Identitätstäuschung habe zuvor aber keine Abschiebung erfolgen können. Die Eltern hätten 2005 als angeblich syrische Staatsangehörige unter Angabe falscher Personalien Asylanträge gestellt. Bereits im November 2006 habe eine rechtskräftige Ausreiseverpflichtung nach erfolglosem Asyl- und Klageverfahren vorgelegen. Erst Ende 2018 habe die Familie ihre tatsächliche Identität angegeben, um eine Beschäftigungserlaubnis beantragen zu können. Zuvor seien ihnen die Leistungen nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz gekürzt worden.
Seit mehr als zehn Jahren sei die Familie kontinuierlich darauf hingewiesen worden, dass sie ausreisepflichtig sei. Dieser Verpflichtung sei sie freiwillig nicht nachgekommen. Es gebe auch keine Rechtsgrundlage für einen weiteren Aufenthalt. Die beiden geflüchteten Kinder seien durch Personen, die aktiven Widerstand gegen die Abschiebung leisteten, aus dem Auto gezogen worden. Sie seien mit diesen in der Dunkelheit verschwunden. Die Ausländerbehörde habe deshalb kurzfristig entschieden, dass der Vater zunächst nicht abgeschoben werde.
Beim Vollzug von Abschiebungen werde die Ausländerbehörde von der Polizei unterstützt. Auf die Abflugzeiten und die damit verbundene Abholung vom Aufenthaltsort habe die Ausländerbehörde keinen Einfluss.
Gefragt, wie es mit dem Vater und den beiden älteren Kindern weitergeht, teilt die Pressestelle mit: Sowohl der Vater als auch die beiden älteren Kinder seien ausreisepflichtig. Von Amts wegen sei für die beiden geflohenen Kinder zunächst eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden. Dem Vater sei ein Zimmer in einer städtischen Gemeinschaftsunterkunft zugewiesen worden. Zum Transport der Familie erklärt die Stadt: „Für die Fahrt zum Flughafen wurde ein Reisebus gebucht. Die Familienmitglieder wurden in einem Polizeifahrzeug, natürlich mit Sitzen und angeschnallt, zu dem Reisebus gebracht.“ Im Bus habe es eine Toilette und eine kleine Bordküche gegeben. Verpflegung wie Wasser, Sandwiches, Obst und Süßes sei durch die Ausländerbehörde im großen Maße besorgt und zur Verfügung gestellt worden, ebenso Mund-Nasen-Schutz und Einweg-Handschuhe.
Die Polizeiinspektion Magdeburg Dass die Polizei bei Abschiebungen lediglich Amtshilfe leiste, erklärt die Polizeiinspektion Magdeburg auf Nachfrage. Die Personen seien in einen Polizei-Bulli mit Sitzen gebracht und keinesfalls auf einer Ladefläche transportiert worden. Zudem seien während des Einsatzes weder Schusswaffen angewendet noch der Gebrauch angedroht worden.
Zehn Polizeibeamte seien involviert gewesen, außerdem zwei Mitarbeiter der Ausländerbehörde, die den Einsatz leiteten. Die Abschiebung sei gegen 20.40 Uhr erfolgt und zunächst ruhig abgelaufen. Dann aber habe die Familie angefangen zu telefonieren. Vor dem Haus hätten sich etwa 15 Personen eingefunden, die Widerstand gegen die Abschiebung geleistet hätten, die Straße blockiert hätten. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Personen hinzukämen, wenn jemand abgeschoben werde. Widerstand „in dieser Heftigkeit“ sei aber die Ausnahme, erklärte ein Sprecher der Polizeiinspektion Magdeburg auf Nachfrage. Die Personalien der Störer seien aufgenommen worden. Sie hätten mit der Störung der Abschiebung eine Straftat begangen.
Der Volksstimme liegt ein Video von der Abschiebung vor, aus dem die Gemengelage vor Ort deutlich wird. Immer wieder versuchen Menschen zu dem Bulli vorzudringen, fordern Menschen, dass die Großeltern sich noch von der Familie verabschieden müssten. Dann ist zu sehen, wie die zwei Kinder davonlaufen. Wie sie aus dem Bulli herausgekommen sind, ist nicht eindeutig zu erkennen. Dann ist ein Polizist zu sehen, der etwas zieht und auf die Störer richtet. Worum es sich bei dem Gegenstand handelt, ist nicht zu erkennen.
Der Flüchtlingsrat Robert Fietzke als Vorsitzender des Flüchtlingsrats ist überzeugt, dass eine Waffe gezogen worden sei. Auch er sieht eine ungewöhnliche Härte. Nicht nur die Tochter, auch der Vater werde sich in eine Klinik begeben, weil er mit der Situation nicht zurechtkomme. Er sei zusätzlich besorgt, weil seine Kinder nicht zusammengeblieben sind. Robert Fietzke mahnt: „Es ist nicht so, dass die Ausländerbehörde nicht noch eine andere Entscheidung hätte treffen können.“ Die Frau sei mit den beiden kleineren Kindern allein in Armenien und spreche die Sprache nicht. Auch er kommt zu der Einschätzung, dass die Abschiebung nicht rechtmäßig abgelaufen sei. Am morgigen Donnerstag soll es daher eine Demonstration auf dem Domplatz geben. Der Flüchtlingsrat hilft bei der Organisation. Beginn ist um 13 Uhr. Die Corona-Vorschriften sollen eingehalten werden.
Derzeit befinden sich Armenien und Aserbaidschan im Krieg um die Region Bergkarabach.