Lukas lernt an der Kreisvolkshochschule lesen und schreiben Der lebenslange Kampf mit den Worten
Lesen und Schreiben -- für die meisten Menschen normaler Bestandteil des Alltags. Für Menschen wie Lukas aber eine große Herausforderung. Vermutlich ihr ganzes Leben lang.
Salzwedel l Lukas (Name geändert) kämpft um jede Silbe. Es ist der Kampf seines Lebens, und er hat ihn noch nicht aufgegeben. Immer wieder formt er mit seinen Lippen ein ¿B\'. Als würde er hoffen, dass zufällig noch andere Buchstaben oder gar ein ganzes Wort aus seinem Mund herausfällt. Die Augen sind geschlossen. Der Kopf gesenkt und das orange Polohemd unter dem Pullover bis oben zugeknöpft. Die rauen Hände umklammern den Bleistift wie einen Rettungsring auf stürmischer See. Zusammen mit neun anderen Schülern sitzt Lukas im Raum 221 der Kreisvolkshochschule. Alles, was zu hören ist, ist Lukas\' Buchstabenmantra. Und plötzlich: "Basteln!" Erlöst von der Anspannung sackt Lukas auf seinem Stuhl kurz zusammen. Der Blick bleibt unten auf seinem Heft, in dem in unsicherer Handschrift neben dem Bild eines Apfels "Afpel" geschrieben steht.
Der 29-Jährige ist einer von vermutlich 7,5 Millionen Analphabeten in Deutschland. In Sachsen-Anhalt wird ihre Zahl auf mindestens 100 000 geschätzt. Darunter Personen, die gar nicht lesen und schreiben können, oder Menschen, die zwar Buchstaben und Wörter kennen, mit dem alltäglichen Umgang aber überfordert sind. Einkaufen, Fahrpläne lesen, Formulare ausfüllen - ohne Hilfe für Analphabeten eine tägliche Herausforderung.
In den Kursen der KVHS üben sie das Alphabet, lernen Grammatik oder suchen zu jedem Buchstaben ein passendes Tu-Wort. Eine große Verbesserung der Fähigkeiten ist bei Erwachsenen allerdings kaum noch zu erwarten. "Es geht vor allem um den Ausbau auf dem jeweiligen Leistungsniveau", erklärt Lehrer Stephan Münchhoff. "Was in der Kindheit nicht gelernt wurde, ist später nicht mehr aufzuholen." Das weiß auch Lukas, das mittlere von drei Kindern. Er hat dafür auch ein Wort gelernt. "Spätentwickler." Ein schweres Wort, für ihn allemal. Die Auffälligkeiten begannen schon als Kleinkind. Langsamer als die Kinder um ihn herum lernte Lukas laufen. Als die anderen schon wild umherliefen, krabbelte Lukas noch über den Fußboden.
Eingeschult wurde er auf eine normale Grundschule. Zwei Jahre lang sei das gut gegangen. Doch dann zogen die anderen Schüler schnell an Lukas vorbei. "Peinlich" war ihm das. Und noch schlimmer: "Ich habe mich auch über mich selbst geärgert." Während er erzählt, von den Hänseleien und Witzen der Mitschüler und der eigenen Hilflosigkeit, vermeidet Lukas jeden Augenkontakt. Irgendwann schließlich ging es nicht mehr. Er musste auf eine Förderschule wechseln. Die Lehrer dort sind auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen vorbereitet, und die Mitschüler teilen das Schicksal und die Erfahrungen. Zum ersten Mal hatte er Spaß an der Schule.
Dort ging es vor allem um Arbeit mit den Händen, weniger mit dem Kopf. "Wir haben im Schulgarten gearbeitet, gekocht und Musik gemacht", erzählt Lukas. Mit 18 verlässt er die Schule - ohne Abschluss. Dafür mit einem Führerschein. Autos und Technik, das sind seine Themen. Lukas reißt die Augen weit auf und beginnt zu schwärmen. "Ich habe die anderen Jungs immer fahren gesehen und gedacht, das will ich auch." Das große Ziel vor Augen hat Lukas angefangen zu lernen, und er wusste sich zu helfen.
Mal las sein Vater die Fragen vor, mal der Fahrlehrer. Solange, bis Lukas einen Großteil der Fragen auswendig kannte. Bremsweg berechnen oder die Regel ¿rechts-vor-links\'. In seinem Spezialgebiet macht Lukas so schnell keiner was vor - zumindest theoretisch. Praktisch vermeidet er lange Strecken und das Fahren auf unbekannten Wegen. Eine Umleitung oder der hektische Verkehr einer Großstadt sind für ihn ein Graus. Klar, dass sein Skoda heute sein ganzer Stolz ist. Doch auch der muss bezahlt werden.
Seit September 2000 arbeitet Lukas in den Altmark Werkstätten des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschlands (CJD). Acht Vertretungen gibt es alleine in Sachsen-Anhalt. In den verschiedenen Bereichen der Salzwedeler Einrichtung arbeiten inzwischen 201 Personen. Auch wenn die Zahl der Neuaufnahmen erstmals seit einem Jahrzehnt nicht mehr steigt, "nimmt das Leistungsniveau weiterhin ab", beklagt Leiterin Barbara Quast. Gefördert werden, nach einem dreimonatigen Eingangsverfahren, Menschen mit körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung, Schlaganfallpatienten oder Spätentwickler wie Lukas. Zwei Jahre werden sie beim CJD in Handwerk, Hauswirtschaft oder Gartenarbeit angelernt.
"Unser Ziel ist es, alle auf den freien Arbeitsmarkt zu vermitteln", erklärt Barbara Quast. Doch das ist nicht einfach. Denn für viele Betreute sind Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit oder Konfliktverhalten größere Hürden als das bloße Lesen und Schreiben. Auch Lukas ist schon mit Arbeitskollegen aneinander geraten.
So ruhig, schüchtern und zurückhaltend er im Klassenraum sitzt, so aufbrausend kann der junge Mann bei der Arbeit werden. "In seiner Gruppe", sagt Barbara Quast, "versucht er auch schon mal, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken." Dort fühlt er sich sicher und ist kein Außenseiter. Beim CJD verdient Lukas 105 Euro Grundlohn im Monat. Dazu gibt es maximal 180 Euro Leistungslohn und die Grundsicherung vom Staat. Die Arbeit beim CJD strukturiert das Leben der Betreuten. Montags bis donnerstags acht Stunden Dienst, freitags sieben. Eine Sicherheit im Leben, ein Gerüst, an dem sich Lukas und seine Kollegen festhalten können in einer Welt, die für sie oft zu schnell und schwer zu verstehen ist. "Wir versuchen, so viel Normalität wie möglich zu bieten", beschreibt Barbara Quast das Leitbild der Einrichtung. Dazu gehört aber auch, die Menschen nicht zu überfordern. Deshalb gibt es täglich zwei Stunden Pause. "Langes konzentriertes Arbeiten oder Stehen ist für viele nicht möglich." Auch das ist eine Hürde für den Einstieg in die freie Wirtschaft, wo es eher um Überstunden geht.
Lukas verdient sein Geld als Gärtner. Seine Gruppe schneidet die Hecken auf dem Minigolfplatz, jätet das Unkraut vor dem Krankenhaus oder pflanzt Bäume auf dem CJD-Gelände. "Das macht mir Spaß", sagt Lukas. Ganz besonders, weil er als Einer der Wenigen mit der Motorsäge arbeiten darf. Die Freude an der Natur immerhin hat er als Kind gelernt. "Wir hatten Kaninchen, Hühner, eine Katze und sogar Enten", erinnert sich Lukas an einen glücklichen Teil seiner Kindheit. Kaninchen hat er auch heute noch, aber nur zum Spaß. Er hält sie auf dem Hof seiner Großmutter, in deren Haus er seit einigen Jahren zusammen mit ihr wohnt. "Ich bin ja schließlich alt genug und muss nicht mehr bei Mutti und Vati wohnen." Während Lukas seiner Oma im Garten und Haushalt hilft, Gardinen aufhängt oder Staub saugt, zeigt die 83-Jährige ihm, wie man kocht. Am Wochenende lesen beide manchmal in der Zeitung. "Das ist wichtig", findet Lukas, und es scheint, als habe er sich in seinem Leben ganz gut eingerichtet.
Doch dass er wohl nie ohne staatliche und soziale Hilfe wird leben können, ahnt er vermutlich auch. Barbara Quast sieht "auf absehbare Zeit keine Chancen" für Lukas, einen normalen Job zu finden. Im nächsten Jahr werden die ersten CJD-Betreuten in Rente gehen und auch dann weiterhin unterstützt. Bis dahin hat Lukas noch mindestens 36 Jahre vor sich. Wie es langfristig für ihn weitergehen soll, weiß auch er nicht. In Momenten mit solchen Gedanken beginnt er doch zu hadern. Mit sich und der komplizierten Welt: "Ich habe mir dieses Leben ja auch nicht ausgesucht."