Projekt Erinnerungen an Torgau
Angehende Sozialpädagogen an der Berufsschule in Salzwedel setzten sich mit der Erziehung hinter Gittern zu DDR-Zeiten auseinander.
Salzwedel l „Torgau toppt nichts. Da war jeder Tag schlimm.“ Alexander Müller beantwortet die Frage, was ihn in seiner Jugend am meisten geprägt hat, mit einem Lächeln, heiter und zynisch zugleich. Der gebürtige Sachse war zu Gast in der Klasse der Sozialpädagogen an den Berufsbildenden Schulen in Salzwedel im Rahmen eines Projekttages zum Thema „Erziehung hinter Gittern. Der geschlossene Jugendwerkhof Torgau als Endstation im Erziehungssystem der DDR“.
Dieser Tag ist Teil des Modellprojektes „my responsibility“ (Meine Verantwortung), das der Verein Miteinander und die Gedenkstätte des Jugendwerkhofes gemeinsam als Teil des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ initiieren. Und Alexander Müller nutzte die Gelegenheit, angesichts seiner eigenen Biografie die angehenden Erzieher immer wieder an ihre Verantwortung zu erinnern. „Erzieher ist nie nur ein Job. Ihr habt eine enorme Verantwortung, denn es geht um Seelen.“
Alexander Müller wird 1969 im Erzgebirge geboren und wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter, einer selbstständigen Kunsthandwerkerin, auf. Als Wolf Biermann 1976 ausgebürgert wird, unterschreibt sie eine Protestpetition. Das hat Folgen. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes suchen sie auf, sie wird gezwungen, ihre selbstständige Existenz aufzugeben und als Näherin im Schichtbetrieb zu arbeiten. „Meine Mutter war eigentlich völlig unpolitisch - so lange, bis für sie eine Grenze erreicht war“, blickt Alexander Müller zurück. Die war dann erreicht, als seine Mutter in einem West-Katalog die Kleidungsstücke entdeckt, die sie und ihre Kolleginnen nähen. Kurzentschlossen hängt sie die Seiten an die Wandzeitung im Betrieb.
Das hat für den Sohn Folgen. Im April 1980 wird er auf dem Weg zur Schule von Mitarbeitern der Jugendhilfe gestoppt, in ein Auto gesetzt und ins drei Fahrstunden entfernte Spezialkinderheim Mildenau gebracht.
Eine völlig andere und durchreglementierte Welt, in der kein Platz für Mitmenschlichkeit ist. „Ich habe mich so oft gefragt, warum ich eigentlich hier bin“, erinnert sich Alexander Müller. Zwei Drittel der Kinder seien eigentlich psychisch krank gewesen. Einige Kinder des anderen Drittels hatten Eltern, die nicht mit dem System der DDR übereinstimmten.
Mildenau ist nur der Anfang. Es folgen weitere Kinderheime in Rodewisch und Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Ohne sein Wissen und seine Zustimmung ist seine Schulzeit vorbei. „Ich sollte eine Teilfacharbeiterlehre als Schlosser machen. Dabei wollte ich lieber eine kaufmännische Ausbildung absolvieren.“
Ein Fluchtversuch aus dem Jugendwerkhof in Burg hat die Einweisung in den geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau zur Folge. Und als er nach seiner Rückkehr nach Burg seine kritische Haltung nicht verbirgt, wird er ein knappes Jahr später erneut dort eingewiesen.
Das sei der Moment gewesen, in dem er an Selbstmord dachte. Er habe sich in den Schlaf geheult und doch tags darauf voller Trotz die Reise nach Torgau angetreten. Als kleines Kind habe er mit seiner christliche Erziehung nicht viel anzufangen gewusst. „Doch in Torgau war ich froh, dass ich wusste, wie man betet.“
Die von Gewalt und Demütigungen geprägten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Alexander Müller leidet an posttraumatischen Belastungsstörungen, kann nicht arbeiten. Er lebt von einer Rente.
Aber er engagiert sich gegen das Vergessen und ist als Elternvertreter aufgrund seiner eigenen Erfahrungen hoch sensibel, wenn etwa eine Lehrerin von Schülern als „störenden Elementen“ spricht. „Das geht gar nicht“, stellt er klar.
Torgau verfolgt ihn. Immer wieder suchen ihn die Erinnerungen heim. Für Alexander Müller Grund genug, vor jedweder Form von Extremismus zu warnen. „Leute, die die Deutungshoheit über andere Menschen beanspruchen, würden auch den Jugendwerkhof in Torgau wieder auferstehen lassen.“