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Innerdeutsche Grenze DDR: Meine Zeit als Grenzer in der Altmark

Ein ehemaliger Grenzsoldat aus Salzwedel blickt für die Volksstimme auf seine Zeit an der Grenze zurück.

Von Alexander Rekow 16.12.2017, 04:00

Salzwedel l Es ist nass und kalt. Ein paar Krähen krächzen durch den tristen Novemberhimmel, Menschen sind weit und breit nicht zu sehen. Der Himmel zeichnet ein trübes, ein beinah trauriges Bild über den Wiesen und Bäumen der westlichen Altmark. Der Atem malt kleine Wolken. Die Feuchtigkeit zieht Schritt für Schritt durch das Schuhwerk, als Walter A. (Name geändert) bei Klein Chüden, in der Nähe der Stadt Salzwedel, seinen ehemaligen Arbeitsplatz erklärt. Walter A. war aber weder Landwirt noch Jäger, Walter A. war Grenzer.

Seine Vergangenheit sieht man ihm nicht an. Ein 67-Jähriger mit Brille, blauer Jeans, schwarzer Winterjacke und braunen Lederschuhen. Mit seiner kleinen Rente wohnt er in einem Mehrgeschosser in der Hansestadt. Mietwohnung, Balkon und kleines Auto. Walter A. ist ein gewöhnlicher Rentner im Osten Deutschlands – seine Vergangenheit ist es nicht.

„Die Grenze ist unter allen Umständen zu sichern“, sagt Walter A., das war sein Auftrag als Unteroffizier der Nationalen Volksarmee, kurz NVA. „Wenn ich draußen war, war meine Waffe immer mit 30 Schuss unterladen und gesichert – weitere 30 Schuss waren Reserve“, sagt der Salzwedeler. Von 1970 bis 1973 „sicherte“ er die innerdeutsche Grenze in der Altmark gegen den „kapitalistischen Westen“. „Jede Kompanie hatte etwa zehn Kilometer zu sichern“, erzählt er. Zehn Kilometer, die sein Leben prägten. Zehn Kilometer, die für die einfache DDR-Bevölkerung eine verbotene Zone darstellten. Zehn Kilometer Todesstreifen, so hat es das DDR-Regime gewollt und umgesetzt.

Walter A. ist kein gebürtiger Salzwedeler. Vor 67 Jahren ist er in Weißewarte, einem Ortsteil von Tangerhütte, aufgewachsen. Für seine Ausbildung zum Modellbauer zog es den Altmärker nach Wernigerode. Nach bestandener Prüfung arbeitete der heutige Rentner noch in Weißwarte in einem Betrieb als Former, als das verheißungsvolle Angebot kam. Sogenannte „Werber sind auf mich zugekommen“, erinnert er sich. Dass er seinen Dienst für die Volksarmee machen musste, war ihm ohnehin klar. Nun kam das Angebot der Grenzer. „Ich fragte einen Freund, welche Arbeit auf mich zukommen wird“, sagt Walter A., der von diesem nur belächelt wurde. „Arbeit?“, fragt der Freund. „Nein, Arbeit ist das keine. Du gehst und schaust – das ist deine Arbeit“. Für Walter A. war das seinerzeit ein verlockendes Angebot. So führte ihn sein Weg über das Wehrkreiskommando in Tangerhütte mit einem Sammeltransport auf dem Lkw nach Wittenberge und von dort mit dem Zug nach Salzwedel. „Ich bin mit einem kleinen Köfferchen am Fuchsberg angekommen“, erinnert er sich. Ab Mai 1970 gehörte Walter A. der NVA an. Im Oktober gleichen Jahres war seine Unteroffiziersausbildung abschlossen und er gehörte fortan zum Grenzregement 24, später nach Fritz Heckert benannt. Fritz Heckert war ein Mitbegründer des Spartakusbundes. Eine Vereinigung von marxistischen Sozialisten, die während des 1. Weltkriegs am Ziel einer internationalen Revolution des Proletariats festhielten, um Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus weltweit zu stürzen. Das Grenzregiment 24 stationierte A. in der „Kompanie 5“, seinem Abschnitt an der altmärkischen Grenze (siehe Grafik).

Walter A. kramt in seinem kleinen DDR-Beutel mit Blümchenmuster. Er sucht Erinnerungen, die er heute teilen möchte. „Ah, da sind sie ja“, sagt er und hat ein Bündel mit Orden in der Hand. „Die sind für gute Leistungen“, sagt er mit etwas stolz: „Wenn die Gruppe sich steigerte, gab es extra welche“, weiß er noch. „Nahkampf, Judo, Laufen – man musste bestimmte sportliche Normen erfüllen. Walter A. hat sie erfüllt, auch beim Schießen. „Um für die Schützenschnur zugelassen zu werden, musste man auf 100 Meter mindestens 23 Ringe schießen“, erinnert er sich: „Für 25 Ringe gab es die Eichel – für 27 die Zweite“. Sein Schießbefehl ist ihm bis heute im Ohr geblieben: „Genosse Unteroffizier, fünf Schüsse – Feuer frei“! Das Schießen bereitete A. nie Sorgen. „Als Kinder haben wir immer mit der Luftbüchse geschossen“. Was ihm hingegen mehr umtrieb, war „der berüchtigte Schießbefehl“. Nicht der am Schießstand, sondern der an der Grenze.

„Gott sei Dank musste ich den Finger nie krumm machen“, sagt Walter A. Mit Finger krumm machen meint der ehemalige Grenzer das Betätigen des Abzugs seiner Kalaschnikow. „Krenz, Mielke und die Bande sprachen immer vom Schießbefehl“, sagt Walter A., der immer hoffte, nie in diese Situation zu kommen: „Emotional war das schwierig“. Für den Fall, er hätte gemusst, hatte der ehemaliger Grenzer einen Plan im Kopf: „Ich war ein guter Schütze und hätte gezielt vorbei geschossen“, sagt er. Seine Waffe kannte er genau: „Runter, Ritsch-Rastsch und drücken“. Dann kamen die 7,62 Millimeter Patronen aus dem Lauf.

Walter A. steht auf einer Wiese zwischen Klein Chüden und dem niedersächischem Volzendorf. Weit und breit nichts als Wiesen, Büsche und Bäume – irgendwo im nirgendwo. Doch die idyllische Landschaft täuscht. „Hier war ein Gehöft, das wurde platt gemacht“, weiß A., der neben dem Gedenkstein dafür steht. Wie diesem Gehöft erging es dem gesamten Ort Jahrsau bei Jebel. Dem DDR-Regime war das Dorf zu nah an der Grenze und so wurde es 1970 kurzerhand dem Erdboden gleich gemacht. „Und der Graben, der wurde extra angelegt“, sagt A. Ein sogenannter „Kfz-Graben“. „Da wäre keiner mit seinem Fahrzeug durchgekommen“, ist sich der Grenzer sicher. Auch nicht durch die Kanalrohre. „Da waren Gitter eingesetzt“. Dann zeigt A. auf die gegenüberliegende Seite: „Da, der Weg: das ist auch ein Weg der Grenzer. Die Platten liegen noch – ‚Ein-Loch-Kein-Loch‘ haben wir die genannt. Der Weg führt an Feldern vorbei, das Gras steht hoch. „Das war früher nicht so, das haben die alles mit Gift kurz gemacht, damit man weit schauen kann“, erinnert er sich. Er blickt in Richtung Niedersachsen: „Ich erinnere mich noch an ein Weihnachten, das war auch emotional“, weiß er noch genau. „Da drüben war eine Gruppe aus dem kapitalistischem Ausland – die haben Weihnachtslieder gespielt und gesungen – das ging durch Mark und Bein“.

Walter A. kennt seine ehemaligen Wege, kann sich noch an die Struktur erinnern.“ Wir haben von Sonntag bis Freitag in verschiedenen Schichten gearbeitet“, sagt A. „Von 19 bis 3 Uhr, 22 bis 6 Uhr oder von zwei bis 7 Uhr.“ Nur bei „bestimmten Lagen“, so A., sind wir zwölf Stunden patrouilliert: „Wenn die Bonzen gefeiert haben oder es einen Grenzalarm gab.“ So eine „bestimmte Lage“ gab es auch, wenn beispielsweise Rotarmisten versuchten, über die DDR in den Westen zu kommen. „Es gab auch Schießereien mit den Russen“, weiß Walter A. aus Berichten: „Die wollten hin und wieder auch flüchten.“ Dann war „verstärkter Dienst“ für A. und seine Genossen angesagt.

Es klingelt aus der Jackentasche von Walter A.: „Das ist bestimmt meine Tochter“. „Ich bin doch mit dem Presse-Mann unterwegs – nein, das sage ich nicht. Ja, alles klar“, spricht er in sein altes Handy. Kein Smartphone, ein altes silbernes Klapphandy. „Mir reicht das aus.“ Walter A. ist überhaupt ein genügsamer Mann. Wohl wegen seiner kleinen Rente. Daher ist A. auch nie umgezogen, wohnt heute noch in dem Mehrfamilienhaus, das ihm damals von der Partei organisiert wurde. „Das reicht mir doch, mehr brauche ich nicht.“

Walter A. möchte noch einen Ort aufsuchen, der zu DDR-Zeiten sein Schaffen als Grenzer prägte. Sein Weg führt ihn nach Riebau. „Hier war unsere Grenztruppenunterkunft“, sagt A. und zeigt auf einen heruntergekommenen Gebäudekomplex über drei Etagen – klassischer DDR-Charme. Am Eingang ein großes Tor mit einem kleinen Unterstand in der Form eines Fliegenpilzes. „Das war die ärmste Sau“, sagt A., und spielt auf den Wachmann an, der bei Wind und Wetter am Tor stand. Das Grundstück ist heute bewohnt. Bunt angemalte Lkw, bemalte Wände und Garagentore. „Da, dort waren die acht Schäferhunde untergebracht – und da, dort war die Fahrzeughalle und hier drüben das Tanklager“. Walter A. blickt sich um, Erinnerungen werden wach. „Ich kann das hier blind ablaufen“, sagt A.

Neben der ehemaligen Unterkunft ein Weg aus Kopfsteinpflaster. „Der ist noch genauso“, weiß A., und geht noch einmal seinen alten „Arbeitsweg“. Vorbei an Obstbäumen, von denen er schon damals naschte. Heute geht er seinen Weg allein ab, damals war er mit 15 bis 20 Grenzern unterwegs. Auch hat er heute einen Blümchenbeutel statt ein Sturmgewehr geschultert. Vorbei an Feldern, an denen Bauern noch schriftlich beweisen mussten, dass sie ihre Ernte einholen dürfen. Vorbei an einer Erhöhung, die heute Jägern als Aussichtspunkt dienst statt Grenzern. An Schienen, die nur die Soldaten queren durften. „Das war eben das Recht der Grenzer.“

„Die Grenze war brandgefährlich“, weiß A. „Es waren Schnüre gespannt. Bei Berührung hätten die Platzpatronen ausgelöst – ein Zeichen für uns.“ A. malt die Sicherung der Grenze auf ein kleines kariertes Blatt Papier. Zehn Meter Kontrollstreifen, 25 Meter Mienenfeld, sechs Meter Kontrollstreifen, Kfz-Sperrgraben und eine Flora, durch Gift minimiert: Das war die tödliche Grenze in der Altmark – heute als Grünes Band bekannt.

„Das kann man doch heute erzählen?“, fragt er. Noch immer hat Walter A. einen gewissen Respekt, eine gewisse Angst, für Verrat vom Regime belangt zu werden.