Wendezeit Der Jugend ihren Raum gegeben
Mit Joachim Hoffmann sind bei vielen Salzwedelern bewegende Erinnerungen verbunden. Er ebnete den Weg für die friedliche Revolution 1989.
Salzwedel l „Er hat mein Leben ganz stark geprägt“, sagt Jörg Heimes aus Klein Chüden mit belegter Stimme. Heimes war während der 1980er-Jahre Mitglied der Jungen Gemeinde in der Salzwedeler Katharinenkirche. Bei Pfarrer Joachim Hoffmann (†) durften die jungen Menschen – „wir waren ein harter Kern von zehn bis 15 Leuten“, erinnert sich Jörg Heimes – offen reden, ihre Ängste und Sorgen teilen und Kritik an der Staatsmacht der DDR üben. „Eine so freie Diskussion war sonst völlig unmöglich“, erzählt Heimes in Erinnerung an den Mann, der zweifelsohne als der Wegbereiter für die friedliche Revolution im Herbst 1989 in Salzwedel bezeichnet werden kann.
Joachim Hoffmann starb im vergangenen Jahr, kurz nachdem auch seine Frau Anne gestorben war. Am Sonnabend, 2. November, soll um 14.30 Uhr auf dem Kirchplatz von St. Katharinen „im Gedenken an Joachim Hoffmann, den maßgeblichen und prägenden Mitgestalter der gewaltfreien, friedlichen Revolution 1989“, ein Baum gepflanzt werden. Das schreibt Sabine Spangenberg für den Vorbereitungskreis, der aus Mitgliedern der Jungen Gemeinde 1979 bis 1987 und des Neuen Forums 1989 besteht.
Wie war der Mann, der sich unter dem Dach der Kirche schon ab Ende der 1970er-Jahre mit der Jugend in Salzwedel auseinandersetzte, ihr die Geborgenheit gab, die sie die Angst vor Repressalien vergessen oder eher überwinden ließ? Darüber sprach die Volksstimme mit Jörg Heimes, dessen Lebenslauf in den Jahren vor der Wende selbst von Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist.
Heimes, im Februar 1965 geboren, war schon früh ein Laut-Sprecher. „Ich habe meine Meinung immer entschlossen vertreten“, erzählt der 54-Jährige. „Ich hatte keine Angst und war früh in Opposition zum Staat.“ Dies blieb dem Staat nicht verborgen. Heimes besuchte die Heinrich-Heine-Schule. Der Wunsch Abitur zu machen, wurde ihm dort verwehrt. So entschloss sich der junge Mann zunächst für eine Lehre in der Forst.
Zuvor wurde er aber bereits Mitglied der Jungen Gemeinde. „Mein Freund Jens hat mich mitgenommen“, erinnert sich Heimes an die Zeit, als er 13, 14 Jahre alt war. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Ordner mit Unterlagen aus jenen Jahren. „Wir haben über Friedenspolitik, den Nato-Doppelbeschluss, die Stationierung der Pershing II und der SS20-Raketen, den Wehrerziehungsunterricht und Umweltthemen gesprochen“, berichtet er und man spürt noch heute seine Diskussionsfreude.
Joachim Hoffmann sei ein fortschrittlicher, liberaler Pfarrer gewesen. „Er hat uns Raum gegeben“, blickt Heimes zurück. So habe der Pfarrer auch auf die Leisen gehört, „er hat uns manchmal etwas ausgebremst“, beschreibt der Klein Chüdener, dass in der Jungen Gemeinde alle ihren Platz fanden. Natürlich wurde unter dem Kirchendach auch über den Glauben gesprochen. „Ich bin heute nicht mehr in der Kirche“, sagt Jörg Heimes, „aber ich bin Joachim dankbar, dass er den Glauben in mir geweckt hat.“
Sein Freund Mario habe zu dieser Zeit Gedichte geschrieben, erinnert sich Heimes weiter. „Die hätte er in der Schule nie vorlesen können.“ Auf einem Tonbandgerät im Arbeitszimmer des Pfarrer habe der engere Kreis auch mal Lieder von Wolf Biermann hören dürfen. So groß war das Vertrauen untereinander.
Als kleines Wunder sieht Jörg Heimes heute noch die Tatsache, dass in seiner Stasiakte nicht ein Protokoll aus den Treffen der Jugendlichen mit Pfarrer Hoffmann zu finden ist. „Die Gruppe war dicht“, ist er heute noch froh darüber, dass die Freunde in dieser Zeit so eng zusammengehalten haben. „Die Stasi war ja sonst allgegenwärtig.“
Wie 1982, als Jörg Heimes plötzlich „zugeführt“ wurde, wie es damals hieß. Der junge Mann trug damals das Symbol der Abrüstungsinitiative „Schwerter zu Pflugscharen“ als Aufnäher an seiner Jacke. Schon im Herbst 1981 war das Tragen verboten worden. Es hieß, die Aufnäher seien westliche Importe. Wer sie trage, übe Wehrkraftzersetzung aus. So landete Heimes im Griff von zwei Männern in Zivil im Volkspolizeikreisamt. „Im Verhör hab ich mich bockig gestellt und auf keine Diskussion eingelassen.“ Später trennte eine Mitarbeiterin den Aufnäher von seiner Jacke ab. „Ich musste unterschreiben, dass die Jacke nicht beschädigt wurde“, kann Heimes auch heute noch nur den Kopf schütteln.
Später verweigerte der Salzwedeler nach vielen mühsamen Erklärungen tatsächlich den Wehrdienst. „Ich wurde im Wehrkreiskommando nach meiner Gesinnung gefragt“, berichtet er. Beharrlich blieb er bei seinem Standpunkt. Nachdem ihm ein reguläres Studium verwehrt blieb, versuchte es Heimes über ein kirchliches. „Ich wollte Gemeindepädagoge werden, also in Potsdam studieren.“ Doch nur drei Wochen vor dem Studienbeginn 1985 folgte die Einberufung als Bausoldat. Eineinhalb Jahre lang sah Jörg Heimes seine Freunde und die Familie in der Heimatstadt nur selten. Das Studium war passé.
Zwar gehörte Heimes später zu den Mitbegründern des Neuen Forums 1989, doch aufgrund privater Schicksalsschläge, konnte er nicht mehr seine volle Kraft der Mitarbeit widmen. Als im Herbst mehr als 2000 Leute in der Katharinenkirche zusammenkamen, geschah, was Jörg Heimes Anfang der 1980er Jahre niemals für möglich gehalten hatte.
Etwas enttäuscht ist er darüber, dass mit der Grenzöffnung viele Themen ins Hintertreffen gerieten. In der „Was wollen wir jetzt?“-Erklärung des Neuen Forums hieß es auch: „Wir wollen eine Gesellschaftsform, in der der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.“ Das sei ja auch heute noch aktuell, meint Jörg Heimes.