Bei der Reitlehrerin Kerstin Schulz hat das alte Rennpferd Silverstone sein Gnadenbrot bekommen Die Geschichte vom Mädchen und dem Schimmel
Silverstone hieß das Rennpferd, das Kerstin Schulz aus Schönebeck nach der Wende vor dem Schlachter rettete. Der Schimmel bekam bei ihr das Gnadenbrot. 30 Jahre ist der Vollblüter geworden. Jetzt ist er hochbetagt gestorben. Was lebt, ist die Geschichte einer innigen Beziehung zwischen Mensch und Tier.
Schönebeck l Anfang Juni habe ich ihn noch stehen sehen. Silverstone, das Rennpferd. Auf einer Koppel in Felgeleben graste der Schimmel etwas abseits vom Geschehen. Ein alter Knochen war das Tier, mit fast 30 Jahren für seine Art sogar steinalt. Es wirkte abwesend, war sich selbst genug. Mein Interesse war geweckt. Der Schimmel strahlte etwas Erhabenes aus. Er war quitt mit der Welt, so schien ist. "Das ist Silverstone", erklärte Kerstin Schulz. "Der bekommt bei mir sein Gnadenbrot. Auf der Rennbahn in Magdeburg war er einst sehr erfolgreich", versicherte die Reitlehrerin.
Über Silverstone wollte ich eine Geschichte schreiben, über sein Leben. Als ich Kerstin Schulz um einen Termin bat, war Silverstone gestorben. Altersschwäche. War die Geschichte damit hinfällig? Ich bat die Kollegen in der Redaktion um ihre Meinung. Sie waren sofort interessiert, sie wollten wissen, was für ein Dasein der Schimmel auf Erden geführt hat. Hier ist seine Geschichte.
Es ist ein Maitag im Jahr 1982. Auf dem Gestüt Boxberg erblickt ein Fohlen das Licht der Welt. Die Mutter heißt "Silberblume", Rasse: Englischer Vollblüter. Auch der Vater "Alciglide" ist edler Herkunft. Die Besitzer nennen das Jungtier "Silberstein". Ein Jahr lang darf das Fohlen bei seiner Mutter bleiben. Dann kommt das Tier nach Magdeburg, zum Volkseigenen Betrieb Börde, der zwei Rennställe unterhält. Natürlich soll Silberstein Rennen laufen. Dafür ist er geboren. So sehen es die Menschen. Inge Rieke wird seine Trainerin. Sie ist der erste weibliche Jockey in der DDR. Sie bringt Silberstein bei, einen Reiter auf seinem Rücken zu dulden und keine Angst vor der Startmaschine zu haben. "Das hat er alles gut gemeistert", weiß Kerstin Schulz.
Die Jugend eines Pferdes dauert sieben Jahre, solange befinden sich die Tiere im Wachstum, jedenfalls die Hengste. Bereits als Dreijähriger wird Silberstein das erste Mal auf die Piste geschickt. Hindernisrennen und Flachrennen stehen für ihn auf dem Programm auf den Magdeburger Rennwiesen. Ein Champion wird Silberstein nicht. Er belegt aber Plätze im guten Mittelfeld, einmal schafft er es als Erster über die Zielllinie.
Es war Liebe auf den ersten Blick
Typisch für ihn war eine gewisse Nervosität, die bei Vollblütern oft zu beobachten ist. Seinen Charakter beschreibt Kerstin Schulz als "unwahrscheinlich stark". "Wenn er nicht wollte, dann wollte er nicht." Die spätere Besitzerin lernte das Tier als Teenagerin im Rennstall der Trainerin kennen. Pferdebegeistert führte ihr erster Weg nach der Schule in den Magdeburger Herrenkrugpark. Ausmisten, Fell striegeln, die Pferde führen gehörten zu den Aufgaben der freiwilligen Helfer. "Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich ihn das erste Mal kommen sah", erzählt Kerstin Schulz lächelnd.
Dann kam die Wende und viele, die bis dahin eine Aufgabe hatten, verloren sie. Der Volkseigene Betrieb löste sich auf, die renditeträchtigen Vollblüter wurden verkauft. Pferde, von denen kein Gewinn zu erwarten war, kamen zum Schlachter. Dieses Schicksal sollte auch Silberstein blühen. Doch da griff jemand vehement ein. "Kind, was willst du denn mit einem Pferd?" Die Großmutter von Kerstin Schulz, eine leidenschaftliche Zockerin auf der Rennbahn, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Ja, ich habe meine Oma um Geld angebettelt, denn ich hatte natürlich keine 6000 Ostmark." Als der neue Besitzer, ein Unternehmertyp mit Sitz in Berlin-Hoppegarten, partout nicht mit sich verhandeln lassen wollte und auf dem Schlachtererlös bestand, verlor Kerstin Schulz kurzzeitig die Contenance. "Ich habe ihm vor die Füße gespuckt", erinnert sie sich. Und sie erinnert sich an ihr Mädchen-Sparbuch, das sie plünderte. Irgendwie kam das Geld zusammen. "Da habe ich ihn mitgenommen. Er war mein erstes Pferd." Aus dem Namen Silberstein hatte Kerstin Schulz bereits zu DDR-Zeiten für sich Silverstone gemacht. Weil es westlich klang und weil genau das verpönt war.
Die 43-Jährige hat einige Fotos dabei. Sie schluckt. "Es kommen immer wieder die Tränen", sagt sie mit feuchten Augen. "Mein Versprechen an ihn war: Du bleibst bei mir, solange du lebst. Nichts mit Schlachter."
Mehr als die Hälfte ihres Lebens hat Silverstone die gebürtige Magdeburgerin begleitet. So lange, bis er nicht mehr konnte. Weil auch der Gott der Pferde Grenzen für das irdische Dasein gesetzt hat. Die Geschichte des Schimmels und seiner Beschützerin handelt auch von den Problemen, ein Pferd irgendwo artgerecht unter zu bekommen. Zuerst stand Silverstone in einem Stall in Magdeburg-Diesdorf, später in Wahlitz, dann wieder im Herrenkrug, dann in Vogelsang und schließlich zogen Ross und Reiterin nach Schönebeck.
Das Rennpferd kannte nur ersten und fünften Gang
Als erste Lektion musste Kerstin Schulz ihrem vierbeinigen Freund beibringen, dass es auf der Welt nicht nur schnell und langsam gibt. "Er kannte als Rennpferd nur speed. Den Trab hat erst später gelernt", erzählt sie amüsiert.
Und wie war Silverstone als Charakter? "Ein totaler Charmeur. Und ein Kuschelbär. Er liebte es, in den Ohren gekitzelt zu werden. Er legte den Kopf in meinen Arm, als wenn er sagen wollte: Komm, lass uns losreiten. Und diese Kulleraugen - ich war hin und weg." Hunde, Kinder, Mäuse: alles kein Problem für den Vollblüter. Was er partout nicht mochte, waren blaue Kornblumen. "Die hat er immer wieder ganz argwöhnisch beguckt." "Mit ihm habe ich mich immer sicher gefühlt. Er ist stets mit mir sehr vorsichtig gelaufen. Ich habe die stundenlangen Ausritte genossen." Im Alter wurde Silverstone heller und heller. Typisch bei Schimmeln. "Ein Märchenpferd", schwärmt Kerstin Schulz.
Schon als Kind war es ihr Traum, mit einem Schimmel über die Wiesen zu reiten. Träume können wahr werden. Dafür steht diese Geschichte.