Heimatgeschichte Künstler Hans Both: 1945 in Ostpreußen gefangen - Flucht unmöglich
Hans Both und dessen Mutter Margarete zählten zu jenen Menschen, die 1945 nicht mehr aus Ostpreußen fliehen konnten. Über drei Jahre mussten sie auf einem Gut arbeiten, das nun zur Sowjetunion gehörte.
Calbe/Lautern - Thomas Linßner
1973 in den Masuren. Die Urlauber aus der DDR campen überwiegend. Hotel? Privatquartier? Reisebüro? Alles viel zu kompliziert oder zu teuer. Man besucht im nordöstlichsten Winkel der Volksrepublik Polen Danzig, Marienberg, Allenstein oder den Nazi-Gruselort „Wolfsschanze“. Die fast geradlinig verlaufende Grenze zum Bruderstaat Sowjetunion ist nicht weit.
Aber davon hält man sich besser fern, auch wenn monatlich brav die Beiträge für die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft gezahlt werden.
In den lieblichen Dörfern scheint die Zeit stillzustehen. Die tiefen Wälder locken mit Bergen von Pfifferlingen, die vielen Seen sind ein Bade- und Paddlertraum, wenn nicht gerade Mückenzeit ist.
Mit „Stalins letzter Rache“ bis Ostpreußen
Ulrike und Hans Both aus Calbe an der Saale haben sich mit ihrem Auto der sowjetischen Marke Saporojez auf den Weg gemacht. Das Auto mit den drei Gängen wird umgangssprachlich auch „Stalins letzte Rache“ genannt, weil es ziemlich störanfällig ist. Der Kofferraum des Heckantriebes ist winzig. Bei mehr als 90 km/h läuft der Motor heiß. Man muss Pausen einlegen. Auch die beiden Calbenser sind auf der 900-Kilometer-Tour von Zwischenreparaturen geplagt.
Hans Both möchte zum ersten Mal nach fast vier Jahrzehnten seinen Geburtsort wiedersehen. Wo die Wurzeln sind, die ihn prägten. Er ist zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt. Am 16. April 1935 wurde er im ostpreußischen Lautern geboren.
Aber wo liegt das? In der DDR gilt als „ewig Gestriger“, wer die alten deutschen Ortsnamen verwendet. Vermutlich heißt Lautern heute Lutry. Informationen dazu sind knapp. Eine ostpreußische Landsmannschaft, wo man hätte fragen können, gibt es nicht. Für den Staat sind das Revanchismusverbände. Das französische Wort „Revanche“ bedeutet Rache, Vergeltung. Doch darauf sind die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in der DDR nun wirklich nicht aus. Sie wollen doch „einfach nur mal wieder ihre Heimat sehen“.
Also Lutry.
Das Bauchgefühl und die erste Frage am Dorfrand bestätigen es. Eine ältere Dame spricht deutsch. Deutsch im wunderbaren harten Dialekt, wie ihn die Ostpreußen sprechen und der in den Straßen Ost- und Westdeutschlands immer seltener wird. Ja, Lautern heißt jetzt Leary.
Es muss ein freundlicher Schicksalswink sein: Es stellt sich heraus, dass die geduldige Informantin mit Hans Boths Mutter Margarete aufgewachsen ist. An ein schnelles Weiterkommen ist nun nicht mehr zu denken. Bald riecht es nach Kaffee und der Tisch füllt sich mit Leckereien. Zufälligerweise ist die Frau gerade bei Vorbereitungen für die Hochzeit ihres Sohnes. Ulrike und Hans sind Gäste. Ehrengäste! Die Familie hat deutsche Wurzeln. Und dafür sind die Calbenser jetzt Stellvertreter. Es werden Erinnerungen ausgetauscht.
Es regnet Granatsplitter vom Königsberger Himmel
Rückblick: 1939. „Näh! Den Flieger geh ich nicht her!“, missversteht der kleine Hans in Königsberg die Hilfsbereitschaft eines Straßenbahnschaffners, der ihm beim Einsteigen helfen will. Seine Mutter Margarete Schappler (Jahrgang 1913) hat ihr heimatliches Dorf verlassen und arbeitet in Königsberg in Stellung. Deren Eltern sind verstorben, es gibt keine Lebensgrundlage für eine alleinstehende junge Mutti. Der vierjährige Hans gilt als „Manöverrückbleibsel“. Vater unbekannt. Und das in einem streng katholischen Dorf!
In der 372.000-Seelen-Stadt schert man sich weniger um derartige „Unsittlichkeit“. Margarete arbeitet in einem Kolonialwarenladen am Stadtrand. Schließlich führt ein freundlicher Zufall zur Ehe mit Willi Both. Doch das kleine Familienglück wird nicht lange Bestand haben: Es ist Krieg. Alle Gedanken, Gefühle und Handlungen der Erwachsenen sind von Kummer und Ängsten geprägt. Die Front rückt immer näher. Bomben fallen. Es „regnet“ Splitter. Die Familie muss sich einen Luftschutzbunker graben. Sehr schnell ist der Fluchtweg ins „Reich“ abgeschnitten. Nur noch über das zugefrorene Haff oder per Schiff über die Ostsee können die Menschen entkommen.
Noch 1944 wähnt sich die Bevölkerung in Sicherheit
Das Ende des Krieges ist absehbar. Seit Beginn des Jahres 1945 läuft die Offensive der Roten Armee, die eine Fluchtwelle in Ostpreußen auslöst. Noch 1944 wähnt sich die Bevölkerung in der „Kornkammer des Reiches“ in Sicherheit. Drei Jahre, nachdem Hitler seine Soldaten im Unternehmen „Barbarossa“ in die Sowjetunion einmarschieren ließ, stehen nun sowjetische Truppen an der Grenze. Die Gauleitung Ostpreußens zögert die Evakuierung der Zivilbevölkerung bis zu diesem Zeitpunkt hinaus, eigenständige Fluchtbemühungen sind bei Todesstrafe verboten. Erst jetzt, inmitten der blutigen Kämpfe, fliehen Hunderttausende überstürzt aus ihrer Heimat.
Es ist bitterkalt, bis zu minus 25 Grad.
Mit Lastwagen werden die Menschen hastig zum Bahnhof Königsberg gefahren. Während Vater Willi Both in der Fabrik nicht abkömmlich ist, macht sich Hans mit seiner Mutter, den Großeltern und einer Tante auf den Weg. Mit der Bahn soll es nach Pilau, der Hafenstadt am Frischen Haff, gehen und dann mit dem Schiff über die Ostsee ins „Reich“. Aber es kommt anders: Tiefflieger zersieben die Plane des Lastwagens. Zwar erreichten die Boths noch einen bereitgestellten Zug, der es aber nur bis zum Stadtrand schafft. Hier geht es nicht weiter.
Als der nächste Tag anbricht hören sie Worte, vor denen sich die Flüchtlinge so sehr fürchten: „Dawai, dawai!! Ruki wwerch!! (Schnell, Hände hoch)“, schreien weißbekittelte Rotarmisten.
Sie sind entfesselt, nach alldem, was ihre Familien unter den deutschen Besatzern erleiden mussten.
Klirrende Kälte und unvorstellbare Angst
Es herrschen klirrende Kälte und unvorstellbare Angst. Die Boths sitzen zitternd im Packwagen des Zuges, der von den russischen Soldaten nicht beachtet wird. Der neunjährige Hans klebt mit einem Auge an einer Spalte zwischen Tür und Wand. Schienen und das Fahrwerk verursachen sehr verdächtige Geräusche.
Dann gibt es eine Detonation. Der Packwagen springt kurz hoch. Ruhe. Fassungslosigkeit. Die Gleise sind gesprengt worden. Das war es dann! Pilau wird nicht erreicht - die „lustlos“ legt ohne die Flüchtlinge ab. (Was das bedeutet, erfährt Hans Both Jahrzehnte später: Ein sowjetisches U-Boot hatte das Schiff am 30. Januar 1945 versenkt. Mehr als 9000 Menschen finden den Tod.)
Und wie soll es jetzt weitergehen?
Frauen sind fast ausschließlich damit beschäftigt, sich zu verunstalten und zu verstecken, um nicht vergewaltigt zu werden. Aber das hilft wenig. Und oft geschieht das Entsetzliche in den Räumen voller Flüchtlinge. In Gegenwart von Kindern.
Den Menschen dämmert, dass die ersten Schritte auf deutschem Boden bei vielen russischen Soldaten schlimme Aggressionen auslösen und diese auch nicht unterbunden werden. Damit muss nun gelebt werden. Unterschlupf - Versteck - ständige Suche nach Essbarem.
Tote Kinder bleiben am Wegesrand liegen
Aber lange hat die Familie Both diese „Freiheit“ nicht. Schon nach ein paar Tagen werden die Menschen zusammengetrieben. Wohin geht es und warum?
Es gibt keinerlei Versorgung oder gar medizinische Betreuung. Kleine Kinder, Alte und Schwache sterben und bleiben am Wegesrand liegen. So auch die Oma von Hans. Gicht und Alter haben sie gezeichnet. Dann kommt der Durchfall hinzu, so dass sie auf dem Schlitten festfriert und am Wegrand liegen bleibt.
Für Trauer bleibt keine Zeit. Es gilt zu überleben.
Am Abend wird ein Dörfchen vom Treck wie von einem Hochwasser überflutet. Häuser leer oder bewohnt - das spielt keine Rolle. Stroh wird in die Gebäude geschleppt, die Keller nach Essbarem durchsucht und an allen geeigneten Stellen kleine Feuer angezündet.
Am nächsten Morgen geht es weiter. Wohin? Keiner fragt danach... Wer könnte darauf auch eine Antwort geben?!
Dann wird der Treck auf freiem Feld gestoppt. Einige Menschen werden ausgesondert. Ganz offensichtlich nach dem Eindruck ihrer Arbeitsfähigkeit. Auch Hans Boths Mutter wird gegriffen. Ihr neunjähriger Sohn schreit entsetzlich und klammert sich an sie. Das hilft sogar. Scheinbar ist der russische Soldat ein guter Vater. Hans bekommt seine Mutter wieder - aber die Tante muss mit.
Nachts wird gelaufen, tagsüber versteckt
Eines Tages gelingt die Flucht. Eine junge Frau, mit der sich Margarete Both angefreundet hat, meint die Gegend zu ken-
nen. Nachts wird gelaufen, tagsüber werden Verstecke aufgesucht und geduldig gewartet. Endlich ist das Grundstück der jungen Frau in Sicht. Viele Leute haben sich dort bereits einquartiert. Eigentum, Recht, und was alles darunter zu verstehen ist, haben sich aufgelöst.
Man braucht Obdach, Wärme und Nahrung
Weil die neue Eigentümerin polnisch spricht kommt es zu einer guten Verständigung. Doch das Haus ist übervoll. Mutter und Sohn wird im Nachbarhof ein Unterschlupf angeboten. Hans, der jetzt zehn Jahre alt ist, erfasst die Situation schnell. Man braucht ein Obdach, Wärme, Nahrung.
Aber bald geraten die Heimatlosen wieder in die Schleppnetze der Roten Armee. Neues Ziel ist ein großer Gutshof, der schon einige Jahre nicht mehr bewohnt und bewirtschaftet scheint. Jetzt wird er von einem Russen geführt. In leerstehenden Häusern und Schuppen suchen die Menschen einen Unterschlupf. Nach ein paar Tagen werden sie zusammengerufen: Die Arbeit beginnt. Dawes, dawai!
Den Frauen (Männer sind ja nicht vorhanden) werden Hacken in die Hände gedrückt und mit einem Pferdewagen auf den Acker gebracht. Dort wartet schon eine russische Vorarbeiterin, die anleitet und antreibt. Und irgendwann läutet es vom Gutshof her. Mittagspause.
Die Pferde brauchen Zeit zum Kauen, um wieder etwas zu Kräften zu kommen. Also muss man das den Zweibeinern auch zugestehen. Der Stallmeister, ein Deutsch sprechender Mann, den die Frauen als Wolgadeutschen einstufen, ruft dann mit seiner Glocke zur Arbeit.
Niemand besitzt noch eine Uhr. Das ist das Erste, was die russischen Soldaten einem wegnehmen.
Der elfjährige Hans wird Bauer und Kutscher
Die Jungen, keiner ist kaum älter als 15, werden Kutscher. Der mittlerweile elf Jahre alte Hans wird zum Eggen eingeteilt. Ob er es kann oder nicht.
Die Menschen werden notdürftig versorgt. Sie sollen ja Kraft zum Arbeiten haben. Medizinische Versorgung oder gar eine Schule gibt es nicht.
Eines Tages wird Margarete Both mitgeteilt, dass ihr Sohn eine längere „Reise“ machen muss. Wohin und warum? - Nein, darauf gibt es keine Antwort. Würde er nach Sibirien gebracht? Panik.
Doch Hans wird nur zur Überführung von ein paar Kühen gebraucht und ist tags darauf wieder da.
1947 erscheinen nach und nach neue Leute auf dem Hof. Frauen, Kinder und auch ein paar Männer. Sie sprechen Russisch, haben kaum drei Habseligkeiten bei sich und werden nach einer gewissen Zeit zur Arbeit eingeteilt. Die erledigen sie locker und scheinen immer gut gelaunt. Es sind Russen aus zum Teil fernen Regionen, die im Raum Königsberg angesiedelt werden.
Die Deutschen haben fast die Hoffnung aufgegeben, freigelassen zu werden. Man beugt sich seinem Schicksal. Lange Zeit wissen sie auch nicht, ob der Krieg vorbei ist oder nicht. Ob Hitler noch lebt interessiert sowieso keinen Menschen.
Oktober 1948: „Ihr dürft nach Deutschland“
Eines Tages, es ist Anfang Oktober 1948, steht am Morgen ein sowjetischer Geländewagen im Hof und alle Deutschen werden in den Versammlungsraum gerufen. Große Unruhe! Dann kommen zwei Offiziere. Der Deutsch sprechende Stallmeister übersetzt: Ihr dürft nach Deutschland ausreisen! Ihr könnt auch bleiben - werdet dann aber sowjetische Staatsbürger. Doch niemand bleibt.
Gedämpfte Freude macht sich breit.
Stimmt es wirklich? Freiheit?
Den Menschen wird mitgeteilt, dass sie längere Zeit unterwegs sein, aber nicht versorgt werden.
Tags darauf fahren die Lkw nach Königsberg, das jetzt Kaliningrad heißt. Das dauert einen ganzen Tag und wird von einem einzigen Singen und Jubeln begleitet.
Hans versteht diese Euphorie nicht. Seine Welt ist das Erlebte der vergangenen Jahre. Deutschland soll jetzt die neue Heimat werden? Was ist Deutschland jetzt eigentlich? Komisch.
Für den Transport steht sogar ein Personenzug bereit, 40 Waggons lang! Was für eine neue Welt. Jeder hat Platz und keiner muss was tun.
Gebrauchsfähige und freie Streckenabschnitte müssen immer erst ermittelt werden. Tag und Nacht. Zwei Wochen lang. Und was das Schwierigste ist: Kann ich jetzt ein Feuer machen? Wird die Zeit reichen, um einen Pott Kartoffeln zu kochen? Wenn die Lokomotive pfeift, reicht die Zeit gerade noch zum Abräumen.
Besonders schwer haben es die polnischen Feldhüter entlang der Strecke. Oktober 1948 ist die Zeit der Kartoffelernte. Und der Zug hält auf wundersame Weise immer mal an solchen Feldern. Es gibt keine Hemmungen. Die bedauernswerten Posten. Auch Warnschüsse helfen kaum. Die Vergangenheit hat diese Menschen geprägt.
Dann tauchen deutsche Schriftzeichen auf. Begeistert werden Ortsnamen gelesen. Wir sind in Deutschland! In Dresden wird die Bahnsteigkante sofort mit Kochfeuern bestückt. In Coswig steckt man die Ostpreußen mit dem „komischen Akzent“ in ein Quarantänelager und entlaust sie. Und von hier aus dürfen sie ein selbst bestimmtes Ziel auswählen. Angeboten werden die Städte Burg oder Schönebeck. Da Margarete und Hans keine Verwandten im „Reich“ haben, sind sie ratlos. Aber weil Schönebeck (nie gehört) „schön“ klingt, ist klar, dass sie Schönebeck wählen. Auch dort steckt man sie noch mal in ein Lager, in dem zuvor KZ-Häftlinge untergebracht waren.
Mutter und Sohn bekommen später ein Zimmer in der Annastraße. Die Hausbesitzerin ist nicht begeistert, weil sie ihr möbliertes Zimmer überlassen muss. Hans erfüllt ein ganz besonderes Gefühl, hier eine Bleibe und dafür sogar einen Schlüssel zu haben. Aber: Er soll jetzt in die Schule gehen.
Warum? Wofür soll das gut sein? Doch er muss.
Als 14-Jähriger für die 3. Klasse vorgesehen
Hans ist fast 14 und soll in die 3. Klasse gesteckt werden. Seine Mutter erreicht, dass er probehalber in der 4. Klasse anfangen darf. Und er kommt damit klar. Vieles von dem, was er vor Jahren gelernt hat, ist verblasst. Aber ihn interessiert alles. So lassen sich die Löcher schließen. In den nächsten zwei Jahren überspringt er jeweils zwei Klassen.
Doch ganz banale Dinge des Alltags erinnern noch an die Zeit nach dem Krieg in Ostpreußen. Als eines Tages die Jugendlichen ins Schwimmbecken springen, macht Hans das auch. Es ist das tiefe Becken. Der 15-Jährige geht wie ein Stein unter, muss reanimiert werden. Der Klassenlehrer ist außer sich: „Was hast du dir nur dabei gedacht?!“ Hans: „Ich habe nicht gewusst, dass man das lernen muss, das Schwimmen.“ Hans Both wird Arbeiter, studiert später und ist als Konstrukteur im Traktorenwerk Schönebeck tätig. Er ist gut im Sport, hält mehrere Rekorde, wird ein anerkannter (Freitzeit-)Künstler, macht zahllose Ausstellungen. Besonderes Merkmal sind seine Lithographien.
Margarete Both heiratet noch mal, stirbt 2007. Über die Zeit in Ostpreußen, das ein Teil der Sowjetunion geworden ist, wird kaum in der Familie gesprochen.
Eine Prägung jener Zeit lässt sich nicht abstellen. Bei Ulrike und Hans Both ist der Kühlschrank immer proppenvoll. „Ich ertrage es nicht, wenn wir keine Lebensmittel im Haus haben“, lächelt der 86-Jährige etwas verlegen.