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Kinderheim Calbe „Wir waren nicht eingesperrt, sondern frei“

Emotionales Wiedersehen zwischen Martin Patzelt und vielen „seiner“ Kinder und Jugendlichen.

27.09.2016, 19:12

Calbe l „Erkennst Du mich noch?“: Das ist eine Frage, die Martin Patzelt am Sonnabend nicht nur einmal gestellt bekommt. Manchmal muss der 69-Jährige mit musterndem Blick kurz inne halten, bevor sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit macht und er sein Gegenüber liebevoll in die Arme schließt. Für einen kleinen Moment ist es wie damals, vor 30, 35 oder 40 Jahren.

Es ist das Jahr 1971: Nach dem Studienabschluss in Karl-Marx-Stadt (siehe Infokasten) übertrug man dem gerade 24-jährigen Absolventen die Verantwortung des katholischen Kinder- und Jugendheimes St. Elisabeth in der Magdeburger Straße. „Ich war sicher der jüngste Heimleiter, dem jemals die Verantwortung für eine solche Einrichtung mit 50 Plätzen übertragen wurde“, blickt Patzelt im Volksstimme-Gespräch zurück. Bis dahin hatten es Nonnen des katholischen Frauenordens der Grauen Schwestern geführt, dem es aber Anfang der 1970er Jahre schlicht an Nachwuchs fehlte. Etwas naiv in seinen Vorstellungen habe Patzelt die Herausforderung mit großem Engagement angenommen. „Die Aufgabe war besonders am Anfang oft nicht unproblematisch“, erinnert sich der heutige CDU-Bundestagsabgeordnete. Ein Grund dafür waren die verbliebenen vier Nonnen, die noch in der Einrichtung arbeiteten. „Eine meiner ersten Amtshandlungen war die reinen Mädchen- und Jungengruppen zu mischen“, sagt Patzelt. „Im Garten haben wir Fußball gespielt. Das gab es vorher so auch noch nicht. Insofern hatten es die Schwestern wohl schwerer als ich.“

Kirchliche Kinderheime führten neben den zum Großteil staatlich geführten in der DDR ein Schattendasein, erklärt Patzelt. Davon habe es nur ein Dutzend katholischer Heime gegeben, eines davon in Calbe.

Dort lebte Anke Hagedorn als Mädchen über viele Jahre. „Die meisten drücken ihr Mitleid aus, wenn sie erfahren, dass ich in einem Heim aufgewachsen bin. Dem ist aber überhaupt nicht so“, meint die Frau mit einem Lächeln. „Ich habe sehr viel für mein späteres Leben mitnehmen können.“ Sie erinnert sich gern an eine behütete Zeit, in der ihr viel ermöglicht und geboten wurde. Da waren gemeinsame Ausflüge mit dem Fahrrad an die Ostsee, in ein Bauernhaus in der Altmark oder in den Harz. „Wir waren nicht eingesperrt, wir waren frei“, meint die Personalberaterin eines IT-Unternehmens und ergänzt: „Das haben wir in erster Linie Martin, seiner Familie und den Erziehern zu verdanken.“ Tatsächlich machten die Patzels das Heim so attraktiv, dass es zu einem Treffpunkt für viele Jugendliche aus der Saalestadt wurde. „Wir haben stets das Prinzip eines offenen Hauses gelebt, in denen bestimmte Regeln wie ein gemeinsames Abendessen mit Gebet einzuhalten waren“, sagt Martin Patzelt.

Manuela Held kam schon als Kleinkind in die Obhut des Kinderheims und wuchs dort auf. Wenn sie mit Katharina Patzelt, die damals als Physiotherapeuthin unter anderem im Calbenser Krankenhaus arbeitete, in Erinnerungen schwelgt, dann hat es viel von einem Mutter-Tochter-Verhältnis. „Es war eine glückliche Zeit für mich“, bestätigt die Calbenserin. Dennoch: Damals habe sie es geärgert, aufgrund ihres katholischen Hintergrunds kein Jungpionier sein zu können. „Martin Patzelt hat uns klar gemacht, was dieser Gruppenzwang heißt: Alle haben ein blaues Halstuch, alle haben ein blaues FDJ-Hemd und alle gehen in eine Richtung. Sei doch einfach Du. Sei Du – individuell“, sagt Manuela Held im 2014 erschienenen Dokumentarfilm „Zwischen Gott und Volksbildung: Die kirchlichen Kinderheime in der DDR“, der wiederholt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlt wird. Heute ist Manuela Held selbst als staatlich anerkannte Heilpädagogin, systemische Familienberaterin, Mentorin für frühe Bildung und Erziehung tätig.

Nach seinem Weggang aus Calbe ist Martin Patzelt als Politiker seiner Überzeugung eines offenen Hauses treu geblieben. Bundesweit machte er im vergangenen Jahr Schlagzeilen, als er in seinem Wohnhaus im brandenburgischen Briesen zwei Flüchtlinge aus Eritrea aufnahm. Dafür schlug ihm neben Zustimmung auch viel Unverständnis und Hass entgegen. Patzelt ist überzeugt, dass Deutschland sein Flüchtlingsproblem nur in den Griff bekommt, wenn sich die Bürgergesellschaft engagiert und ihre Türen öffnet. „Die Menschen müssen bereit sein, mit ihren Ängsten umzugehen.“