Zirkus Schmidt: "Zuhause ist, wo der Wagen steht"
Aeros, Ostdeutschlands letzter Großzirkus, gastiert von bis Sonntag in Barby. Direktor Bernhard Schmidt plaudert aus dem Alltag.
Barby l „Wir haben ein Viermast-Zelt für 1000 Personen, bewegen 40 Tonnen Material auf 40 Fahrzeugen und verlegen 10 Kilometer Kabel“, sagt Bernhard Schmidt (49). Er ist mit 35 Personen auf Achse, von denen „rund 20“ zur Familie gehören. Zusammen mit Bruder Gerhard erweckte Bernhard Schmidt Zirkus Aeros 2005 neu, der Mitte der 1990er Jahre aufgelöst wurde.
In Barby hat sich der Zirkus auf einer großen Wiese am Colphusteich aufgebaut. „Wir wollten eigentlich in Schönebeck gastieren, aber dort gibt es ja keinen geeigneten Platz mehr“, bedauert Schmidt. Aber Barby sei ihm als „gutes Zirkuspflaster“ bekannt.
Die Colphuswiese reicht gerade so aus, um das riesige Hauptzelt, das große Tierzelt und die Vielzahl der Fahrzeuge aufzunehmen. Eine Gruppe Dromedare grast friedlich in der Nähe. Die neugierigen Höckertiere sind schon jetzt Lieblinge der Barbyer. Viele Eltern und Großeltern machen seit Mittwoch einen Ausflug zu ihnen, um den Kindern die mächtigen „Wüstenschiffe“ zu zeigen.
Besonders am ersten Tag muss alles gleichzeitig passieren. Ein Trupp ist losgefahren, um in Köthen, dem nächsten Auftrittsort, Plakate aufzuhängen. Dabei muss man sich an die Vorgaben der jeweiligen Gemeinde halten. „Es gab schon Orte, da durften wir gerade mal zehn Plakate zeigen“, erzählt Bernhard Schmidt. Überhaupt sei der „Behördenkram“ nicht von Pappe. Am Morgen hatte die Agrar GmbH Heu und Stroh sowie einen Lkw-Hänger zur Abfuhr des Tiermistes angeliefert.
Der Aufbau begann am Mittwoch um 6 Uhr mit den Tierzelten, vier Stunden später folgte das mächtige Hauptzelt. Als erstes mussten 110 Erdnägel in den Boden geschlagen werden, dann wurden die vier 13 Meter großen Alu-Maste gerichtet, deren Zelthülle im Anschluss mit Elektromotoren in die Höhe gezogen wurde. Gestern bauten die Männer Rückwände, Tribünen und Kleinkram auf. Alles schweißtreibende Arbeiten, die auch von den Artisten übernommen werden. Unter ihnen ist Bernhards 20-jähriger Sohn Marwin, der während der Vorstellungen als Clown auftritt.
Gerhard und Bernhard Schmidt gehören zur siebten Generation der aus Ludwigslust (Mecklenburg) stammenden Familiendynastie Frankello, einer alten ostdeutschen Zirkusfamilie. Mutter Gisela Frankello war Kunstreiterin und brillierte mit Saltos von Pferd zu Pferd. Die Familie lebt bis auf wenige Ausnahmen das Zirkus-Gen in sich aus. „Unser Opa Georg zählte vor 35 Jahren 14 Kinder, 68 Enkel und 35 Urenkel. Sie können sich vorstellen, wie viele Urenkel das heute sind“, lacht der 49-Jährige, der gleichzeitig Artist, Dompteur, Kaufmann, Buchhalter, Moderator, Organisator, Tierpfleger, Kfz-Mechaniker und Plakatgestalter ist. Als kürzlich eine Urahnin in Herzberg (Elster) ihren 103. Geburtstag feierte, seien rund tausend Gratulanten da gewesen. Auch die Geburtsorte der Akteure lesen sich international. Während Bernhard in Leipzig geboren wurde, kamen Bruder Gerhard in Barcelona, Schwester Christina in Kopenhagen zur Welt. Den Artisten des damaligen DDR-Staatszirkus waren Auslandsgastspiele im Westen erlaubt.
„Du musst für den Zirkus geboren sein“, hebt Schmidt die Augenbrauen. Rund 40 Schulen habe er als Kind und Jugendlicher pro Jahr besucht. Dabei musste man sich als Kurzzeit-Neuling durchsetzen, was bei der Alltagsbewältigung noch heute helfe. Denn einem Zirkus-Mann nehme man nicht so schnell die Butter vom Brot.
„Zu Hause ist da, wo unser Wohnwagen steht“, sagt er. Meine Bemerkung, dass hier ganz schön teure Dinger parken, quittiert er entwaffnend: „Wir haben kein Haus, keinen Grund und Boden. Die Wohnwagen sind unser Zuhause.“ Zwar gebe es auch unerfreuliche Momente, wenn zum Beispiel im Winter mal wieder das Wasser eingefroren sei. „Ich würde aber nie tauschen. Ich brauche die Freiheit. Unvorstellbar, in einer Wohnung leben zu müssen.“ Die Grundausbildung bekommt der Nachwuchs bis heute in der Artistenschule Berlin, den Rest lehren der Zirkus und das Leben.
Eine Besonderheit des Zirkus Aeros ist die Live-Kapelle. Die Schmidts spielen zusammen mit ihren Söhnen mehrere Instrumente. „Könnte man da nicht ‚Betriebskosten‘ einsparen, wenn man eine CD einsetzen würde?“, will ich wissen. „Nee“, schüttelt der Direktor resolut den Kopf, „darauf und auf unsere Tierdressuren sind wir stolz“. „Gibt es Probleme wegen der Tierhaltung? Man hört ja heute nicht selten, dass Tierschützer ...“, brauche ich meine Frage nicht zu vollenden. „Haben wir kaum“, winkt Schmidt ab. Dabei geht er nicht näher darauf ein, dass 2014 Demonstranten und Zirkusmitarbeiter in Leipzig ziemlich heftig aneinander gerieten. Ursache waren Proteste wegen „Tierausbeutung“. „Die Boxen für unsere Pferde sind größer, als sie laut DIN-Norm vorgeschrieben sind“, sagt Schmidt zu diesem Thema.
Premiere ist Donnerstag ab 17 Uhr; weitere Vorstellungen finden am Sonnabend ab 15 und 18.30 Uhr sowie am Sonntag ab 14 Uhr statt.