Kohl in Staßfurt Der Kanzler auf dem Autodach
Im Jahr 1992 besuchte der verstorbene Alt-Kanzler Helmut Kohl Staßfurt. In Erinnerung bleibt vor allem eine Aktion.
Staßfurt l Im Europäischen Parlament in Straßburg haben zahlreiche Staats- und Regierungschefs am Sonnabend bei einem Trauerakt Abschied von Helmut Kohl genommen. Am Abend fand im Dom zu Speyer die Beisetzungsfeier statt. Der ehemalige Bundeskanzler war auch in Staßfurt zu Gast. Der Besuch Helmut Kohls in Staßfurt im Jahr 1992 ist nahezu legendär. Denn ein Bild hat Schlagzeilen gemacht: Der Bundeskanzler will in der Steinstraße zu den Menschen sprechen. Weil es aber keine Bühne gibt, steigt Helmut Kohl kurzerhand auf das Dach seines Autos. Ihm wird das Mikrophon gereicht, die Staßfurter, dicht gedrängt, sind ganz Ohr. „Ich kann mich an diesen Moment noch ganz genau erinnern“, sagt Hans-Jürgen Lärz. Der Förderstedter ist Mitglied in der CDU-Fraktion des Staßfurter Stadtrates. Lange schon, sagt er, gehöre er der Partei an. Immer wieder ist er zu Auftritten Helmut Kohls gereist.
Als der in heimische Gefilde kam, dürfte Hans-Jürgen Lärz natürlich nicht fehlen. „Die Menschen haben schon gewartet. Die schwere dunkle Limousine fuhr vor. Alles hat geklatscht.“ Der Regierungschef sei dann von Eckard Metz, von 1990 bis 1994 Bürgermeister der Salzstadt, empfangen worden. Eigentlich sollte es Gespräche mit den Spitzenpolitikern im Theater geben. „Helmut Kohl merkte aber, dass die Menschen sehr emotional auf seinen Besuch reagieren, deshalb wollte er auch zu ihnen reden.“ Das Autodach musste dafür herhalten. „Er war ohnehin ein großer Mann, eine Persönlichkeit, aber wie er sich auf sein Fahrzeug geschwungen hat, bleibt unvergessen“, sagt Hans-Jürgen Lärz. Der Bundeskanzler habe in seiner Ansprache betont, dass die Wiedervereinigung ein wichtiger Schritt sei und dass alle Kräfte daran arbeiten müssten, den Osten Deutschlands auf Vordermann zu bringen. „Das war so ein bisschen die ‚Blühende-Landschaften‘-Rede.“
Als die vorbei war, traf sich Helmut Kohl mit seinen Gesprächspartnern im Tilly-Saal. Hans-Jürgen Lärz war auch hier dabei, die Stimmung von damals heute noch immer vor Augen. Zuerst nämlich war es kurz ruhig. „Man kannte das ja aus DDR-Zeiten. Wenn die politische Führung da ist, gibt sie den Ton an. Die anderen haben zuzuhören.“ Ein bisschen Macht der Gewohnheit - die Staßfurter blieben zurückhaltend. Doch diesen Gesprächsstil hätte Helmut Kohl - zumindest an dieser Stelle - nicht gewollt, sagt der Förderstedter. „Er unterbrach die Stille und forderte die Anwesenden auf zu berichten, wo der Schuh drücke“, berichtet Hans-Jürgen Lärz. Daraus habe sich ein Gespräch entwickelt. Die Verwaltung berichtete zum Stand der Dinge in Staßfurt. Der Kanzler hörte zu und suchte in seinen Antworten alles in die größeren Zusammenhänge seiner Politik einzuordnen. „Er hat gesagt, was er vor hat.“
Hans-Jürgen Lärz denkt gern daran zurück. Auch an weitere Begegnungen. Der Förderstedter hat viel Wahlkampf für seine Partei und ihren damaligen Kandidaten Karl-Heinz Daehre gemacht. Helmut Kohl traf er häufiger. Zum Bespiel in Dessau, in der Dortmunder Westfalenhalle oder bereits 1990 beim Wiedervereinigungsparteitag der CDU in Hamburg. „Insgesamt fünf, sechs Mal muss es wohl gewesen sein.“
Am 16. Juni ist Helmut Kohl im Alter von 87 Jahren gestorben. „Kanzler der Einheit“ wird er genannt oder „Wegbereiter Europas“. Hans-Jürgen Lärz meint, dass diese Würdigungen zutreffen, bei allem, was auch an innerparteilichen Verfehlungen passiert sei. „Die Berichterstattung der vergangenen Tage zeigt das: Helmut Kohl hat Pflöcke eingeschlagen, die das Zusammenleben in Deutschland und Europa bis heute markieren.“ Dabei sei er nie gefällig gewesen, das hätten Kontrahenten und manchmal auch Reporter erfahren müssen. „Bei unseren Begegnungen war er aber immer aufgeschlossen und wirkte nie unnahbar.“ Hans-Jürgen Lärz ist deshalb überzeugt, dass dieser Teil Kohls in der Geschichte zum Tragen kommen wird. „Er hatte das Gespür für den richtigen historischen Moment, ohne dabei nur vordergründig Deutschland im Blick zu haben. Er hat auf Augenhöhe mit den Regierungschefs anderer Länder gesprochen, er hat ein freundschaftliches Verhältnis zu Michail Gorbatschow aufgebaut. Das war so tragfähig, dass der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - später Staatspräsident - und Kohl gewissermaßen eine Linie hatte, dass ein geeintes Deutschland kein Schreckgespenst mehr war. Genauso ging er im Westen vor.“ Diese umsichtige Politik mache ihn zu einem „großen Deutschen“, sagt Hans -Jürgen Lärz.
Nun kennen Wende und Deutsche Einheit aber nicht nur Gewinner. Hans-Jürgen Lärz weiß das auch. Das aber könne dem Altkanzler nicht zum Vorwurf gemacht werden. Denn es habe keinen Masterplan für die Wiedervereinigung gegen. „Das war beispiellos und ohne Vorbild.“ Wer heute ganz ehrlich zu sich sei, der erkenne die „Blühenden Landschaften“. „Wir haben eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur, anders als in manchen Regionen Westdeutschlands. Grundsätzlich geht es uns allen gut. Der Staat sorgt für soziale Absicherung bei denen, wo es nicht so ist. Und auch Sachsen-Anhalt hat sich entwickelt.“ Zukunftsfähige Technologien seien inzwischen konkurrenzfähig. Der Stadtrat erinnert nur an das Chemiedreieck um Bitterfeld, Halle und Merseburg. Das bleibe auch Vermächtnis Helmut Kohls, sagt Hans-Jürgen Lärz.
Kritisch ist der Förderstedter dennoch. Er warnt davor, dass die Idee eines Deutschlands in einem geeinten Europa zu einer bloßen Bürokratiemaschinerie verkomme. „Das hemmt uns jetzt, in Mittelstand zum Beispiel bei der Nachfolge in Betrieben, oder bei strategischen Entscheidungen.“
Deshalb wünscht sich Hans-Jürgen Lärz, dass die Stimmung wieder ein wenig so wird, wie kurz nach der Wende: „Manchmal ein bisschen hemdsärmelig, aber immer euphorisch.“