Pfarrer Weigel Getragensein in allem

Pfarrer Thomas Weigel geht in den Ruhestand. Fast 35 Jahre wirkte der Geistliche in der Petri- und Johannisgemeinde in Staßfurt

Von Daniel Wrüske 29.05.2016, 19:05

Staßfurt l Manche meinen, Neugier und Glaube widersprechen sich, schließen sich nahezu aus. Pfarrer Thomas Weigel ist in 65 Lebensjahren beidem gefolgt. Manchmal mutig, manchmal zuversichtlich, manchmal vielleicht voreilig. Neugier und Glaube waren es sicherlich auch, die vor 34 Jahren seinen Entschluss festigten, den Pfarrdienst in Staßfurt anzutreten. In der Petri- und Johannisgemeinde gab es ein Jahr lang keinen Pfarrer mehr. Ein Vikarspaar hatte die Vakanz überbrückt. Die Gemeinde war sehr heterogen.

Es gab Christen, Bürgerliche, die noch zur alten Johannisgemeinde gehörten, die letzten Reste der alten Hallenkirche waren gut zehn Jahre zuvor nach Senkung und Feuer abgerissen worden. Dazu kamen Leute aus der Altstadt, aus der Arbeiterschaft. Die Salzstadt zeigte sich im morbiden Charme einer Industriestadt, die ihre große Zeit längst hinter sich hatte, und erste Anzeichen für den Kollaps der DDR-Planwirtschaft offenbarte. Die Petrikirche auf dem Königsplatz war nahezu unbenutzbar, die Gemeinde feierte den Gottesdienst längst im Gemeinderaum, „im Wohnzimmer“, wie man liebevoll sagte.

Pfarrer Thomas Weigel wollte diese Stelle. Mit Anfang 30 wollte er nach einer persönlichen Krise mit Scheidung und Infragestellen seines Pastorenamtes einen neuen Schritt gehen. „Bin ich der Richtige für den Pfarrdienst“, hatte er sich damals gefragt. Die Gemeinde weiß heute, dass es keinen Besseren hätte geben können. „Ich habe mir 1982 das Pfarrhaus und die Kirche angesehen und wusste sofort, dass ich hier her kommen möchte.“

Dafür hat der Pfarrer sogar durchaus lukrative Angebote der Kirchenleitung ausgeschlagen. Das Amt sah den Seelsorger auf einer Stelle, in der alles fertig war, die Kirche saniert, funktionierende Gemeindekreise, gute Kirchenmusik. Eine grüne Insel, war doch das Leben des Thomas Weigel gerade in schwieriges Fahrwasser geraten. Er selbst wollte Staßfurt. Wollte die Segel setzen. „Ich hatte das Gefühl, hier gebraucht zu werden, gestalten zu können.“

Heute sagt Thomas Weigel, dass er sich keine schönere Stelle vorstellen könne. 35 Jahre ist er in Staßfurt geblieben. Bleibt es. Auch wenn jetzt der Ruhestand winkt. Bis die Stelle wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres neu besetzt wird, beauftragt ihn der Kirchenkreis weiter seinen Dienst zu tun. Das macht er gern. Staßfurt schätzt der Pfarrer. Der Beruf hat sein geschichtliches Interesse geweckt und dieses Interesse wiederum ist gebannt von der Historie der Salzstadt. „Alle großen Adelsgeschlechter Mitteldeutschlands haben mit der Stadt und der Region zu tun. Die Industrialisierung mit enormem Bevölkerungswachstum setzte hier sehr früh ein. Es gibt illustre Persönlichkeiten.“

Wenn Thomas Weigel die Stadtgeschichte umreißt, ist das nicht phrasenhaft, sondern geprägt von ernstem Spürsinn. Zeugnis dafür ist, dass er die Chronik der Stadt Staßfurt und der Umgegend, vom Beginne historischer Nachrichten bis auf das Jahr 1836, von Friedrich Wilhelm Geiß geschrieben und erschienen im Jahr 1837, akribisch wissenschaftlich aufarbeitet und herausgeben will. Er schiebt seine Brille auf den Kopf, fasst sich mit der rechten Hand an die Stirn und erinnert im Gespräch an so manches wichtige Datum aus der Geschichte der Salzstadt.

Das ist der Hobbyhistoriker Thomas Weigel. Der Neugierige. Ganz so verinnerlicht ist auch der Christ Thomas Weigel. Der Glaubende. Dabei versucht er gar nicht, die Fragen des Diesseitigen lediglich mit dem Jenseits zu beantworten. Ihn treibt um, dass die Kirchen kaum mehr eine in der breiten Öffentlichkeit wahrnehmbare Kraft entfalten, dass ganze Landstriche entchristlicht sind, obwohl Menschen wieder viel stärker nach dem Sinn des Lebens fragen. Man nimmt es ihm ab, versucht er doch einfach vorzuleben, ein guter Christenmensch zu sein, wie Martin Luther es sagt.

Mit beiden Beinen auf der Erde, aber mit dem Bewusstsein des Geistes in den Himmel gewandt. Oben am Giebel des Wohnhauses von Ehepaar Weigel in der Bodestraße steht im Gebälk des Fachwerks der Beginn des 23. Psalms - „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“ „Das ist die Erfahrung, die wir hier gemacht haben. Die Anforderungen des Alltags mit seinen Höhen und Tiefen sind das eine. Drum herum ist mehr, nämlich das Gefühl des Geborgenseins.“

Auf die Spur dieses Getragenseins ist Thomas Weigel als junger Mann gekommen. Er wuchs in einem atheistischen Elternhaus auf. Kaum Begegnungen mit der Kirche. Mit Gott. Einen eigenen Kopf hat er immer gehabt, so dass ihm in der elften Klasse von einer Staatskundelehrerin „Bremserqualitäten“ bescheinigt worden sind. „Die oppositionelle Haltung gegenüber kommunistischen Autoritäten habe ich meinen Eltern zu verdanken.“

Diese Haltung hat ihn schließlich auch zu anderen Wahrheiten geführt. Er stieß bewusst auf Gott, auf die Vielfalt in den Religionen, die so ganz anders war als der Block kommunistischer Lehren. „Eine freiere und nicht bindend zwingende Welt.“ Heute sagt Thomas Weigel, dass auch seine Vorstellung des Gegenentwurfs zum Politsystem Katalysator für die eigene Hinwendung zu Gott gewesen ist. Ganz ernst, ist Thomas Weigel, wenn er das preisgibt und typisch nahbar, wenn er dann wieder zum Spaß betont, dass er an der Karl-Marx-Universität in seiner Heimatstadt Leipzig studierte und seinen ersten Gottesdienst in Staßfurt im Feierabendheim im Leninring, dem heutigen Otto-Geiß-Haus, hielt.

Als Student erlebte er die Motetten des Thomanerchores in der Messestadt mitsamt ihren Kurzandachten. Und fühlte sich auch nicht von einem abweisenden Pfarrer brüskiert, dem er hinterher Fragen stellte, der ihn aber wegschickte. „Das Suchen nach dem Existenziellen ist stärker gewesen.“ Weil er suchte, fand er Antworten.

Konsequent ist dann, dass er nach dem abgebrochenen Studium der Chemie und kleinen Jobs die Theologie zum Lehrfach wählte. „An einem Sonnabendabend saß ich am See und las Leonard Franks Räuberbande. Ein Pfarrer kommt kurz darin vor und ich stellte mir die Frage. Was ist, wenn du Pfarrer wirst?“ Zielstrebig verfolgte er diese Frage an der Universität. „Das Theologiestudium ist in seiner Breite nicht zu übertreffen.

Es forscht nach dem Grundlegendendem – dem Woher und Wohin.“ Das eigene Vikariat und die ersten Pfarrstellen absolvierte Thomas Weigel in Leipzig und Bad Dürrenberg. „Arbeitergemeinden, wie die in Staßfurt.“ „Ein Schatz“, findet der Seelsorger. Denn er erlebte immer glaubende, tief religiöse Menschen in seinen Gemeinden, die ihn in ganz unterschiedlichen Daseinslagen – vom Leben bis zum Tod – brauchten. Er erfuhr das Menschliche und Allzumenschliche in den Kirchen, und nahm es für sich immer auch als Erfahrungsschatz an.

Am 31. Mai aber endet Thomas Weigels offizieller Dienst als Pfarrer. Superintendent Matthias Porzelle wird ihn im Gottesdienst in der Petrikirche am Sonntag zuvor von Amt und Aufgaben der Gemeinde entpflichten. Ein formeller Akt, den die Landeskirche vorgibt. Thomas Weigel blickt zufrieden auf seine Arbeitszeit zurück - ganz und gar nicht hin und her gerissen zwischen großer Emotionalität, Wehmut oder vielleicht sogar Mattheit, die Jahre mit sich bringen können. Sondern im besten Sinne realistisch und dankbar.

„Ein neuer Lebensabschnitt unter anderen Bedingungen beginnt, den Zeitpunkt kannte ich und habe mich darauf eingestellt.“ Sowas liege nun mal in der Natur der Dinge, sagt er. Vieles werde anders, und vor allem anders, als man es sich vorstelle, sagt Thomas Weigel mit dem ihm eigenen verschmitzten Lächeln im Gesicht. Wer ihn kennt, weiß, dass ihn das nicht abhält, ganz konkrete Pläne zu schmieden. Er möchte unbedingt die Geißsche Chronik fertigstellen, Teile der Familiengeschichte aufarbeiten und vielleicht einen Roman mit geschichtlichem Hintergrund schreiben. „Ich will mich auch gesellschaftlich weiter einbringen. Ich weiß nur noch nicht genau wie.“ Neben seiner Familie weiß Thomas Weigel um zwei wichtige Begleiter: die Neugier und den Glauben.