Chöre Chöre bleiben weiter stumm
Für viele Senioren ist der wöchentliche Chorabend ein zentraler Teil des sozialen Lebens. Doch dies liegt auf unbestimmte Zeit brach.
Stendal l „Singen ist gesund“: So lautet eine populäre Chor-Eigenwerbung. Viele Ensembles buhlen mit diesem und ähnlichen Sprüchen um neue Mitglieder. Doch seit Corona hat sich alles verändert. Was einst als gesunder Zeitvertreib für Jung und Alt galt, wurde fast über Nacht zu einer der gefährlichsten Aktivitäten, der man nachgehen kann. Verstärkt gilt dies im Amateurbereich, wo viele Chorsänger aufgrund ihres Alters zu den sogenannten Risikogruppen zählen.
Spätestens seit bekannt wurde, dass 59 von 78 Mitgliedern der Berliner Domkantorei nach einer Chorprobe Anfang März wegen Coronaverdachts krank geschrieben wurden, lassen Chorleiter in ganz Deutschland Vorsicht walten, und haben alle Chorproben bis auf Weiteres abgesagt. Obwohl damit die Gesundheit der Chormitglieder geschützt werden soll, so hat die Absage durchaus auch „Nebenwirkungen“: Denn für viele Sängerinnen und Sänger, gerade in fortgeschrittenem Alter, ist Chorgesang mehr als nur gemeinsames Musizieren.
„Da bricht das halbe soziale Leben zusammen“, sagt der Stendaler Domkantor Johannes Schymalla. Dennoch sieht er die Maßnahmen als richtig an. „Chorsingen geht zur Zeit überhaupt nicht“, so Schymalla. Chorgesang sei „die größte Ansteckungsquelle“ überhaupt, und Sicherheitsabstände wären „höchstens bei kleinen Chören“ einhaltbar. Doch selbst dann ist „Singen Gemeinschaftssache“, und man müsse „eng beisammen sitzen, um einander zu hören“.
Digitale Lösungen, wie zum Beispiel Chorproben im Livestream, hält der Kantor für ungeeignet. „Das ist für Profis vielleicht leistbar“, fügt Schymalla hinzu, „aber für Laien und größere Ensembles“ ist es „unmöglich das Ganze zusammen zu bekommen“. Es sei sinnvoller, „über Email in Kontakt zu bleiben“, an Geburtstage zu denken und „kleine Aktionen“ zu unternehmen, um „die Gemeinschaft zu erhalten“, denn „man möchte den Chor gesund zurück haben“.Dazu kommt, dass der Vater von drei Kindern durch deren Betreuung nun ohnehin ausgelastet ist.
Die größte Unsicherheit des Kantors ist aber wann, und in welcher Konstellation, Schymalla seine Chöre wieder sehen wird. „Das kann wie ein Neustart sein“, gibt der 43-jährige nachdenklich zu. Er rechnet momentan damit, dass „heuer keine Chorarbeit mehr stattfindet“, und setzt seine Hoffnung auf einen Wiederbeginn im Jahr 2021. Neben der Domkantorei leitet er auch Kinder- und Jugendchöre, bei denen eine Pause von einem Jahr „sehr lang“ sein kann. „Die Interessen wechseln bei Kindern schnell, wenn man nicht dranbleibt“, gibt Schymalla zu bedenken. Auch bei der Domkantorei fürchtet der Chorleiter einen gewissen Schwund, hauptsächlich „aus Altersgründen“. Ganz so weit ist es aber noch nicht, viele Sängerinnen und Sänger stehen nach eigener Aussage „in den Startlöchern“. Bis es aber soweit ist, hofft Schymalla möglichst viele Mitglieder der Kantorei „bei kirchlichen Veranstaltungen oder Orgelandachten“ zu sehen, zumindest „um den Kontakt aufrecht zu erhalten“.
Als Monika Schulz die Tür zum Probenraum der Tangermünder Kantorei im Christophorushaus öffnet, ist sie selbst ein wenig überrascht. Die Stühle stehen noch immer in Chor-aufstellung am selben Ort, an dem sie vor bald zwei Monaten zurückgelassen wurden. Damals verließ sie den Raum in der Erwartung, ihn eine Woche später wieder zu betreten. Stattdessen sammelt sich nun Staub auf dem Dirigentenpult.
„Es fehlt einfach“, so fasst die 72-jährige Altistin die derzeitige Gefühlslage vieler Chorsänger zusammen. Aber: „Man wird vorsichtiger“, bekennt Schulz, „denn vor drei Jahren hatte ich eine Lungenembolie“. Die „Masken nerven“ dennoch, und „Singen mit Schutzmasken geht nicht“. Für „Internetkonferenzen“ ist Schulz „zu altmodisch“, sodass momentan „jeder für sich selbst beschäftigt ist“. Sie selbst leide zwar durch familiäre Kontakt noch nicht unter Vereinsamung, doch für andere Mitglieder, die nochmals älter sind, könnte sich das schwieriger gestalten. Die Gruppe in Tangermünde sei jedoch „sehr gefestigt“, es tut Monika Schulz aber für die Tangermünder Kantorin Olga Minkina leid, die erst vor kurzem mit vielen Ideen ihren Dienst antrat. Minkina bemühte sich vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie, telefonisch mit vielen Chormitgliedern in Kontakt zu bleiben, doch auf Dauer gestaltet sich das schwierig; schließlich hat die Kantorin momentan auch ein kleines Kind zu versorgen.
Während Monika Schulz auf ihrem angestammten Stuhl alleine im Probenraum sitzt, blickt sie aus dem Fenster, durch das die Nachmittagssonne scheint. Die resolut wirkende Chorsängerin wird nachdenklich: „Man fängt fast wieder bei Null an. Aber ich hoffe, dass alles bald wieder normal wird.“
„Gerade der älteren Fraktion fehlt die Gemeinschaft“, weiß auch die Vorsitzende des Altmark-Ensembles, Aileen Klug, zu berichten. Zwar haben viele der Chormitglieder „sporadisch über Whatsapp Kontakt“, doch konstantiert sie bei vielen Älteren eine „Angst vor dem Handy“. Während sich früher „viele in Grüppchen zum Üben trafen“, traut sich nun „kaum einer mehr vor die Tür“. Die 45-jährige prognostiziert auch, dass dies psychologisch „in Zukunft ein Riesenproblem“ wird. Je länger die Kontaktsperre anhält, desto höher wird die Hemmschwelle „um sich wieder loszutrauen“.
Selbst ein paar Wochen Sommerpause können „Chöre vor Schwierigkeiten stellen“, doch nun hat Klug „Angst, dass nur noch der halbe Chor“ nach überstandener Corona-Krise zurückkommt. Die „Angst, man hätte sowieso alles vergessen“ setze sich in den Köpfen fest, und damit gepaart die Frage, „was die Anderen dazu sagen würden“.
Aileen Klug bedauert vor allem, dass „alles ad hoc eingestellt wurde“. Dabei hätte man „in kleinen Gruppen was machen können“, ist sie überzeugt. Denn bei Chören probiere man immer, „alle mitzunehmen“, und so hätte man womöglich Lösungen finden können.
Stattdessen befürchtet die Vorsitzende nun eine Welle der Vereinsamung unter älteren Chorsängern. „Die Alten haben dann keine Aufgabe mehr“, sagt die passionierte Hobbysängerin. Und „das Schlimmste“ sei „das Vergessen“ - nämlich, dass „sich Leute in ihren eigenen vier Wänden vergessen fühlen.“