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Im Stadtarchiv Stendal werden historische Dokumente und Akten der Verwaltung aufbewahrt / Jahrhundertealte Schätze Das stille Paradies des Papiers

Von Nora Knappe 09.09.2010, 06:15

Simone Habendorf hat wohl einen der spannendsten Jobs in Stendal: Sie ist Leiterin des Stadtarchivs und damit Hüterin zahlreicher Schätze, die von früheren Zeiten erzählen. Aber nicht nur "alter Kram" wird hier aufbewahrt.

Stendal. Den Büchern, Akten und Urkunden im Stadtarchiv geht es gut. 20 Grad, 60 Prozent Luftfeuchtigkeit – ganz angenehmes Klima. So mag es auch das Papier. Denn so lebt es am längsten. Und das soll es schließlich auch: zehn Jahre die weniger wichtigen Schriftstücke; 30 Jahre die Unterlagen, die für Rechtsauskünfte wichtig sind, also zum Beispiel Sitzungprotokolle und Baupläne. Wer es allerdings ins Magazin 2 geschafft hat, der bleibt für immer.

Bewegungsmelder und Rauchmelder sind installiert, um die Schätze, die sich hinter dieser Metalltür verbergen, möglichst gut zu sichern. So wie die Urkunde von 1196, ein Neuzugang und das derzeit älteste Dokument im Stadtarchiv. Es ist noch zur Konservierung in Arbeit, kann darum gerade nicht gezeigt werden, wird aber auch seinen Platz in einem der Rollregale finden. Hier, wo schon das älteste Buch, ein Kirchenbuch mit Holzeinband von 1497, aufbewahrt wird oder das Grundbuch von 1744 oder der Ehrenbürgerbrief von 1872 für Otto von Bismarck. Eindrucksvoll auch die Leder-Pergament-Urkunde aus dem Jahre 1502 mit dem dicken Stadtsiegel. "Der Rat zu Stendal verkauft den Vorstehern der Fronleichnams-Brüderschaft eine Rente" ist darauf geschrieben. Das gute Stück steckt wie so viele alte Dokumente in einer separaten Schachtel. "Pizza-Karton" sagen sie im Stadt- archiv dazu.

"500 Jahre alt, so lange hält kein Papier heute", sagt Simone Habendorf und man hört respektvolles Staunen aus ihrer Stimme. Habendorf ist die Wächterin über die dokumentarischen Schätze der Stadt: Sie leitet das Stadtarchiv Stendal und findet ihren Job keinesfalls langweilig. "Wir forschen nicht, sondern suchen auf Anfrage heraus, stellen Fakten zur Verfügung. Auf diese Weise lernt man den Bestand kennen, entdeckt jeden Tag Neues. Aber ich kenne auch längst nicht alles, was hier liegt." Doch manchmal, da könnte sie sich schon sehr in das ein oder andere Dokument vertiefen. "Da muss man aufpassen, dass man die Zeit nicht vertrödelt, und einfach weiterblättern", sagt sie und holt einen alten Zeitungsband hervor, in dem sie eine kuriose Anzeige fand, die für "Kamel-Personenbeförderung im Bürgerpark" wirbt. "Man findet immer das, was man nicht sucht", sagt sie und lacht.

Aber was Simone Habendorf sucht, das findet sie auch. Schließlich arbeitet die 44-jährige studierte Archivarin seit 2002 in dem Haus Ecke Mönchskirchhof/Brüderstraße. Die Inschrift über dem Eingang, die sie für des Lateinischen Unkundige gern übersetzt, lautet in etwa: "Der Jugend errichtet zur Erlernung der schönen Künste". Sie stammt noch aus Zeiten, als hier, auf dem Grundriss der abgebrannten Franziskanerkirche eine Schule errichtet wurde. Auch von diesen Geschehnissen weiß die Archivleiterin einiges zu erzählen, schließlich steckt das Haus, das die Geschichte der Stadt aufbewahrt, selbst voller Geschichte.

<6>Wer aber glaubt, dass hier nur "alter Kram" aufbewahrt wird, der irrt. "Das aktuellste Dokument ist die Tageszeitung von heute", sagt Habendorf. Sie werden zu Bänden zusammengeheftet. Und von den acht Magazinen – also den 4500 laufenden Metern Material – gehört eines ganz allein den Rechnungen. Rechnungen der Stadt Stendal und all ihrer Ortsteile, die durchschnittlich zehn Jahre lang verwahrt werden. "Auch Akten aus der Stadtverwaltung, also zum Beispiel Protokolle der Ratssitzungen, bewahren wir hier auf", erklärt Simone Habendorf.

<7>Aufwand wird auch für sie betrieben: alle Metallteile raus, Archivpappe dazwischen, in spezielle Kartons verstaut und ab in den klimatisierten Raum. Staub- und lichtgeschützt und bei Hochwasser auch dreckgeschützt soll alles sein.

<8>Papier, Papier, Papier. In Zeiten der Digitalisierung nicht ein wenig altbacken? Simone Habendorf spricht dagegen: "Auch wenn es paradox klingt, Papier ist immer noch die sicherste Aufbewahrung. Datenträger wie CDs halten 50 Jahre, was sind denn 50 Jahre? Und die Software? Muss alle naselang erneuert werden." Mikrofilme gibt es zwar einige, aber Habendorf und die anderen zwei fest angestellten Mitarbeiter Tilo Stolzenhain und Ina Nitzsche kommen kaum hinterher mit der Arbeit. "Wenn wir den ganzen Bestand verfilmen und digitalisieren wollten, würden wir drei das zu unseren Lebzeiten nicht schaffen", sagt Stolzenhain, der fürs Restaurieren und Zeitungsheften zuständig ist.

Und zugegeben: Das Privileg zu haben, einer 500 Jahre alten Urkunde übers samtene Leder zu streichen, ist gewiss erhebender, als eine Bildschirmansicht zu bestaunen. Es ist die Faszination der Originale, die die Arbeit im Archiv für Simone Habendorf so spannend macht. "Wir forschen nicht, wir deuteln nicht, wir geben nicht unseren Senf dazu. Wir haben hier die Fakten, die kann ich glauben. Und damit wurde schon so manche vermeintliche Tatsache ausgehebelt", sagt sie und ein vielsagendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Zum Tag des offenen Denkmals will sie bei einer Führung wieder solch ein Pseudo-Faktum enttarnen. Man darf gespannt sein, welches Geheimnis sie in der Stille des ehrfurchteinflößenden Papierparadieses entdeckt hat.