Lesung Die Last der eigenen Sexualität
Marcus Urban outete sich als erster ehemaliger Fußballprofi. Über seine Erfahrungen sprach er mit Stendaler Schülern.
Stendal l Während seiner Präsentation im Dachgeschoss der Berufsbildenden Schule zeigt Marcus Urban am Mittwoch ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Die Aufnahme stammt aus dem Jahre 1985. Die gut 20 Hoch-und Straßenbaulehrlinge sehen Urban als 14-Jährigen. Er trägt ein Trikot vom FC Rot-Weiß Erfurt, freudestrahlend verlässt er nach einem Sieg den Platz. Am Ende der Saison wird der Mittelfeldspieler mit seiner Mannschaft DDR-Jugendmeister.
Urban ist Junioren-Nationalspieler, kickt dabei mit Steffen Freund, Thomas Linke und Bernd Schneider. Seine Teamkameraden werden nach der Wende steile Karrieren in der Bundesliga machen, an Europa-und Weltmeisterschaften teilnehmen. Der Thüringer hingegen wird nur kurz – Anfang der 1990er-Jahre – im Profifußball spielen, obwohl ihm sportlich alle Türen offen standen.
Der Grund: Urban ist homosexuell, kann sich jedoch in seinem Umfeld niemandem anvertrauen. Ein Outing kommt für ihn nicht in Frage. Schwul zu sein und gleichzeitig professionell Fußball zu spielen, ist auch für ihn ein unüberbrückbarer Widerspruch. „Ich war auf der Kinder-und Jugendsportschule. Dort musste man auf Mädchen stehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht“, erzählt der 45-Jährige den Berufsschülern.
Mittlerweile spricht der gebürtige Weimarer offen über seine Sexualität. Im Jahre 2007 outete er sich als erster ehemaliger Profi überhaupt. Zusammen mit dem Journalisten Ronny Blaschke veröffentlichte er seine Biografie „Versteckspieler“.
Regelmäßig ist er seitdem an Schulen zu Gast, um über seine Erfahrungen zu berichten. Zur Zeit ist er in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt unterwegs. Besonders junge Menschen könnten dabei von seinen Erfahrungen profitieren, sagt er: „Es ist eine Geschichte über das Scheitern. Aber auch darüber, sich neu zu orientieren.“ Dabei ist die Stimmung in Stendal zunächst etwas reserviert.
Die ausschließlich männlichen Lehrlinge tun sich mit dem Thema schwer. Hinter vorgehaltener Hand werden politisch unkorrekte Witze gerissen. Natürlich bemerkt Marcus Urban die Spitzen, ignoriert sie jedoch. Stattdessen beginnt er, von sich zu erzählen. Lässt seine nicht immer einfache Kindheit Revue passieren. Erinnert sich daran, wie er im Alter von sieben Jahren mit dem Fußball begann.
Der Sport wurde zu seinem wichtigsten Lebensinhalt. „Hier konnte ich vieles vergessen und meine Aggressionen los werden. Ich habe einen enormen Ehrgeiz entwickelt. Außerdem war ich stolz, auf die Kinder-und Jugendsportschule gehen zu dürfen. Das war ein großes Privileg“
Doch in der Pubertät wird plötzlich alles schwierig. Urban merkt, dass er auf Männer steht. Der Versuch, seine Homosexualität zu verdrängen, funktioniert nicht. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Die Situation quält ihn: „Als Teenager hatte ich das Gefühl, es würde mich innerlich zerreißen. Ich habe mich im Laufe der Zeit immer hohler und leerer gefühlt.“
Das Problem macht sich körperlich bemerkbar. In der Schule fängt er beim Vorlesen unvermittelt an zu stottern. Später leidet er unter Platzangst und Panikattacken. Kurz vor dem Durchbruch als Profi zieht Marcus Urban die Konsequenzen: Er beendet bei Rot-Weiß Erfurt seine Karriere. „Ich habe gemerkt, dass es schief geht. Ich musste einen Schlussstrich ziehen“, berichtet Marcus Urban.
Die Trennung ist radikal. Obwohl er fast sein gesamtes Leben an nichts anderes gedacht hat, besucht der Ex-Profi nach seiner Entscheidung jahrelang kein Fußballstadion mehr. Stattdessen konzentriert er sich auf andere Dinge, beginnt zu reisen und schreibt sich an der Bauhaus-Universität in Weimar ein, um Ingenieur zu werden.
Nach seinem Abschluss zieht er nach Hamburg. Und bekennt sich schließlich offen zu seiner Homosexualität. Was früher ein Makel war, „kippte auf einmal ins Gegenteil. Ich trat nun viel selbstbewusster auf. Schwul zu sein, wurde für mich selbstverständlich.“
Mit dem Fußball hat Marcus Urban mittlerweile seinen Frieden gemacht. Nach seinem Outing besuchte er seine ehemaligen Trainer und Mitspieler, um sich mit ihnen auszusprechen. Seit einigen Jahren spielt er wieder regelmäßig in einer Berliner Amateurliga. Und so zeigt das letzte Foto ihn im Trikot seines aktuellen Vereins. Diesmal allerdings in Farbe.