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Alkoholsyndrom Fürs Kind ist jeder Schluck zu viel

Die 21-jährige Stendalerin Delia Buchhorn leidet unter dem Fetalen Alkoholsyndrom, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft trank.

Von Mike Kahnert 16.01.2018, 17:02

Stendal l „Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte.“ Das sagt Delia Buchhorn über ihren Unterricht an der Berufsschule – ein Unterricht, der sie überfordert hat. Dieses Gefühl ist nichts Ungewöhnliches für die 21-jährige Stendalerin. Sie leidet nämlich von Geburt an am Fetalen Alkoholsyndrom, das heißt, sie wurde durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft geschädigt.

„Mein Fußballtrainer gab mir klare Anweisungen vor, die ich im Spiel dann vergessen habe“, sagt die junge Frau mit dem ärztlich diagnostizierten Krankheitsbild. Das wenig bekannte Syndrom verursache bei ihr Lern- und Konzentrationsschwächen. Für ihr Verhalten erntete sie häufig Unverständnis von Erwachsenen, die nicht wissen, was es mit dem Syndrom auf sich hat oder wie man damit umgehen sollte.

Delia Buchhorn, die aus Tangermünde stammt, wurde als Störenfried bezeichnet. Sie sei kindisch und peinlich gewesen wegen ihrer Hyperaktivität, erzählt sie. Daraufhin hat sie versucht, sich anzupassen. „Ich bin ruhiger geworden“, sagt sie. Sie versucht nicht aufzufallen, damit andere sie nicht bewerten. „Ich war immer auf mich selbst gestellt“, sagt die junge Frau. Viele Freunde habe sie nicht gehabt und auch kaum familiäre Unterstützung.

„Schon die geringste Menge Alkohol kann zu Nervenschäden eines ungeborenen Kindes führen“, sagt der Berliner Professor Hans-Ludwig Spohr, der an der Charité das FASD-Diagnosezentrum leitet. Der Mediziner, der bereits 2015 für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz bekam, sprach vor Kurzem im voll besetzten Stendaler Landratsamt über die „Fetale Alkoholspektrum-Störung“ (FASD, aus dem Englischen: Fetal Alcohol Spectrum Disorder). Aus Gesprächen mit Müttern von Betroffenen weiß er, dass viele den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft nicht zugeben oder getrunkene Mengen verheimlichen, weswegen er keine Grenze beim Alkohol in der Schwangerschaft legen möchte, anhand derer man von gesundheitsschädigenden Mengen sprechen kann. Er empfiehlt gar keinen Alkoholkonsum.

Delia Buchhorn ist sich sicher – ihre Mutter war Alkoholikerin. Sie starb, als Delia drei Jahre alt war, und zwar an Leberzirrhose. „Ich habe keine Alkoholkrankheit, mein Kind hat sie“, erinnert sich die Betroffene an Erzählungen über ihre Mutter und sagt weiter: „Sie hat mit meiner Oma darüber gescherzt.“

Nach dem Verlust ihrer leiblichen Mutter wuchs das junge Mädchen in der Obhut von Vater und Stiefmutter auf. Sie erzählt davon, wie beide damit überfordert waren, wenn sie etwas nicht verstanden habe. Sie sollte „lernen, lernen, lernen“ und „irgendwann ist die Geduld geplatzt“, sagt Buchhorn über ihre Eltern.

Erst mit 19 Jahren bekam sie ihre Diagnose, nachdem die Krankheit in der Kindheit teildiagnostiziert worden war.

Jährlich werden rund 4000 Kinder in Deutschland mit dem Syndrom geboren, hat Experte Spohr in einer Untersuchung ermittelt. Er stellte fest, dass rund fünf von 1000 Kindern unter der Entwicklungsstörung leiden.

Für sogenannte Alkoholbabys gibt es Selbsthilfegruppen. Delia Buchhorn geht einmal im Monat dafür nach Berlin. Zusammen ist sie mit anderen Geschädigten im Oktober 2015 nach Fulda zu einem FASD-Wochenende gefahren, um sich mit anderen Betroffenen aus ganz Deutschland auszutauschen. „Ich war die Einzige aus Sachsen-Anhalt“, sagt sie. Nach dem Treffen entschloss sie sich, mehr Aufmerksamkeit über das Syndrom zu schaffen, denn viele Menschen verwechseln es häufig mit ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Dies bestätigt auch Mediziner Spohr: „Nur zehn Prozent aller Fälle werden überhaupt diagnostiziert.“ Kriterien zur Diagnose sind: Wachstumsstörung, Merkmale im Gesicht, Nervensystemschädigungen beim Kind sowie Alkoholkonsum der Mutter. Nur ein Drittel der Betroffenen hat laut Experten einen Intelligenzquotienten von mehr als 70.

Delia Buchhorn hat zwei Ausbildungen abgebrochen, eine als Maschinenanlagenfahrerin in einer Bäckerei und Zerspanerin über das Berufsbildungswerk. „Ich war überfordert“, sagt sie. Demnächst macht sie eine Therapie, an Arbeit ist vorerst nicht zu denken.

Als Resultat der Initiative der jungen Stendalerin entstand über Zusammenarbeit mit Jugendamt und der „Netzwerkstelle für Kinderschutz und frühe Hilfen“ ein Fachnachmittag in Stendal.

Ärzte und Fachkräfte aus den Bereichen Jugendhilfe und Gesundheitswesen konnten sich in der vergangenen Woche informieren. In der dreistündigen Veranstaltung erklärte Professor Spohr die Krankheit, wie sie sich äußert und warum es wichtig ist, viel Geduld bei Betroffenen zu zeigen.

Auch Delia Buchhorn ist bei der Veranstaltung aufgetreten und berichtete von ihrem Leben und wie sie damit umgeht, anders zu sein. Tina Schulze, Organisatorin dieser Veranstaltung, sagt: „Sie zeigte großen Mut, sich vor über 110 Leuten hinzustellen.“

Delia Buchhorn ist zuversichtlich. Sie erhält mehr Hilfe als in der Vergangenheit und schafft es, selbstständig ihren Alltag zu überstehen. Sie hofft, dass bald mehr Menschen wissen, was FASD ist, damit betroffene Kinder von Geburt an die Unterstützung erhalten, die sie brauchen – eine Unterstützung, die sie sich in ihrer Kindheit gewünscht hätte.