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Holocaust-Ausstellung in Stendal Im Landgericht: Wenn Nachbarn zu Tätern und Mördern werden

Wie eine neue Ausstellung im Landgericht Stendal die Schrecken des Holocaust thematisiert.

Von Mike Kahnert 05.06.2024, 10:40
Thomas Kluger, Antisemitismusbeauftragter der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, erzählt im Landgericht Stendal eine Anekdote über Judenhass, der schon lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland Wurzeln geschlagen hat.
Thomas Kluger, Antisemitismusbeauftragter der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, erzählt im Landgericht Stendal eine Anekdote über Judenhass, der schon lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland Wurzeln geschlagen hat. Foto: Mike Kahnert

Stendal - Es hat ein „Phänomen des Wegschauens“ gegeben. Mit diesen Worten beschreibt Thomas Kluger, Antisemitismusbeauftragter der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, unter anderem das, was vor und während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland passiert ist. Bei einer Ausstellungseröffnung im Landgericht in Stendal erzählt er eine von Behörden vertuschte Anekdote aus Klötze, die zeigt, wie der Judenhass schon vor der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus tiefe Wurzeln schlug.

Wir schreiben das Jahr 1902. Arthur Ruppin, angehender Richter und Jude, musste in seiner Referendarzeit für seine erste Ausbildungsstation ans Amtsgericht Klötze. Zunächst wurde er von Amtsrichter Grohnert mit unerwarteter Herzlichkeit empfangen. Es war das erste Mal, dass dem Amtsrichter ein Referendar zugeteilt wurde. Prompt wurde Ruppin zum Stammtisch eingeladen. Sie tranken zusammen und vertrugen sich gut.

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Bei der Eidesleistung einen Tag später wurden die Personalien aufgenommen. „Ihre Religion?“ „Jude.“ Der Amtsrichter war sichtlich schockiert. „Ausgerechnet ein Jütt.“ Er drehte sich zum Gerichtsschreiber um und formulierte: „Religion mosaisch (Religion Moses betreffend, Anm. d. Redaktion).“ Am Stammtisch war die Stimmung fortan umgeschlagen. Statt herzlich war sie „eisig höflich“, heißt es im Tagebuch von Arthur Ruppin.

Ausstellung rückt die Täter in den Vordergrund

Was möchte Thomas Kluger damit sagen? „Es waren unsere Kolleginnen und Kollegen. Sie waren mitten unter uns.“ Und damit trifft er den Kern der neuen Ausstellung „Einige waren Nachbarn“ in der ersten Etage des Landgerichts Stendal. Es geht nicht wie so häufig um die Opfer des Nationalsozialismus, sondern die Täter. Es geht nicht nur um die Uniformierten, sondern um Nachbarn, Bekannte und vermeintliche Freunde, die zu Denunzianten, Tätern und Mördern wurden. Es geht aber auch um die wenigen Helfer, die Widerstand geleistet haben und sich damit selbst in Gefahr brachten.

Die Ausstellung bestehend aus 22 Postern wird vom Verein Miteinander präsentiert. Zu den Kooperationspartnern gehören unter anderem das Landgericht und die Geschichtswerkstatt Stendal. Es ist eine Wanderausstellung des „United States Holocaust Memorial Museum“, die bis zum 27. Juni zu den Öffnungszeiten des Landgerichts besucht werden kann.

Mit der Anekdote über Arthur Ruppin und dem Landgericht als Ort der Ausstellung schließt sich ein Kreis. Denn wie Pascal Begrich, Historiker und Geschäftsführer vom Verein Miteinander, erklärt, ging der Impuls, die Ausstellung nach Stendal zu holen, von der Justiz aus. So habe eine Mitarbeiterin aus dem Projekt „ZEBRA“ des Landesverbandes für Kriminalprävention die Idee dazu gehabt. „ZEBRA“ ist eine Anlaufstelle für Menschen, die mit Straffälligkeit in Berührung kommen. Nachdem die Geschichtswerkstatt als lokaler Partner gefunden wurde, und ein paar organisatorische Wege später, hat die Ausstellung am Dienstag ihre Eröffnung im Landgericht Stendal gefeiert.

Begleitprogramm zur Ausstellung

Neben der Ausstellung „Einige waren Nachbarn“ gibt es Angebote für Schulklassen und alle am Thema Interessierten.

Führungen für Schulklassen und Jugendgruppen ab der Klassenstufe 8 (circa 14 Jahre) können als kostenlose Bildungsworkshops wahrgenommen werden. Anfragen können per E-Mail an anmeldung.rzn@miteinander-ev.de gestellt werden.

Ein Rundgang durch die Hansestadt mit dem Titel „Arisierung in Stendal“ wird jeweils an den Dienstagen 11. und 18. Juni um 18 Uhr angeboten. Treffpunkt ist das Landgericht Stendal. Inhalt: Wie jüdische Eigentümer aus ihren Geschäften, Häusern und Wohnungen verdrängt wurden. Dorothea Knauerhase leitet den Rundgang.

Eine Fahrradtour mit der Überschrift „Auf den Spuren der Täter“ findet am Sonntag, 23. Juni, um 14 Uhr statt. Es geht um die systematische Entrechtung, Ausgrenzung und Ermordung von Juden und Jüdinnen sowie anderer Opfer des NS-Systems durch die tatkräftige Mithilfe von Nachbarn, Sicherheitsbehörden und der kommunalen Verwaltung. Die Fahrradtour unter Leitung von Jacob Beuchel führt zu Orten des Unrechts: die Machtzentralen der NSDAP, zerstörte oder enteignete jüdische Geschäfte sowie Stätten der Kriegsmaschinerie. Anmeldung unter anmeldung.rzn@miteinander-ev.de.