Inklusion Gehörloser ist Mittler zwischen zwei Welten
Für eine Besonderheit bei der diesjährigen Kommunalwahl sorgte Reiko Lühe aus Bertkow. Er ist gehörlos.
Stendal l Er versteht sich als Mittler und engagiert sich seit vielen Jahren schon für Menschen mit Handicap. Und genau da sah Reiko Lühe aus Bertkow bei Goldbeck seine Berufung, sein ehrenamtliches Betätigungsfeld zu erweitern.
Der 45-Jährige, der seit seiner Geburt gehörlos ist, kandidierte für den Stendaler Kreistag auf der Liste „Pro Altmark“. Zwar verpasste er den Sprung in das Gremium, doch 299 Stimmen in seinem Wahlbereich sollten ihm Mut für seine weiteres ehrenamtliches Wirken machen.
Er spricht klar verständlich und antwortet im Gespräch mit der Volkstimme freimütig auf alle Fragen. Der aufgeschlossene Altmärker besitzt nämlich die Fähigkeit, mit hörenden Menschen zu kommunizieren. „Von Angesicht zu Angesicht gelingt mir das problemlos“, sagt Lühe, der als Aluminium-Schweißer bei der Firma Graepel in Seehausen seit 21 Jahren tätig ist. Anders sei es, wenn sich um ihn herum Menschen unterhalten.
Bei solch einem „Gewirr“, wie Reiko Lühe sagt, habe er keine Chance, den Gesprächen zu folgen. In solchen Fällen sei er auf einen Gebärdensprachdolmetscher angewiesen. Dass diese rar sind und oftmals kein Geld zur Verfügung steht, um sie bedarfsgerecht einzusetzen, hat sein Engagement nicht gehemmt.
„Im Gegenteil“, sagt Reiko Lühe. Er habe nicht nur das Glück mit seinem Kommunikationstalent, sondern wisse sich auch mit dem Einsatz von neuen Medien zu helfen. Beispielsweise hat er auf seinem Smartphone eine App gespeichert, mit der er Transkribieren kann. Das Gespräch wird als Tonaufnahme in Text umgewandelt. Auf dem Vormarsch sei die Nutzung von Video-Chats. Per E-Mail oder WhatsApp zu kommunizieren, „das ist schon normal“.
Die barrierefreie Alternativen zum Gebärdensprachdolmetscher helfen Reiko Lühe bei seinem leidenschaftlichen Kampf für Inklusion. „Ich möchte, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben.“ Als Behindertenbeauftragter für den Landkreis Stendal habe er alle Menschen mit einem Handicap im Blick, ob seelisch- oder sehbehindert, ob Rollstuhlfahrer oder Gehörlose. Die verantwortungsvolle Funktion bekleidet Reiko Lühe seit dem 17. April dieses Jahres. Er war vorher 2. Stellvertreter in dem Beirat, habe aber auch schon einmal aus Gnatz, wie er zugibt, das Handtuch geworfen. „Damals wurde einfach das Geld für Gebärdensprachdolmetscher gestrichen.“ Doch seit drei Jahren „ist alles pikobello in Ordnung“.
Neben dem Beiratsvorsitz ist Reiko Lühe auch jeweils 2. Vorsitzender des Ältmärkischen Gehörlosenvereins und des Altmärkischen Gehörlosen-Sportclubs. Selbst aktiv sei er im Bowlingsport.
Dem Ball jage er nicht mehr hinterher. „Ich gehöre aber einer Fußball-Fangemeinde des Bundesligisten Borussia Dortmund an.“ Wenn es die Zeit erlaube, besucht er live die Spiele seines Lieblingsvereins. Dafür stehen der Gehörlosen-Fangruppe Stadion-Plätze in einem Extra-Block zur Verfügung, auch sei stets ein Gebärdensprachdolmetscher dabei. „Es ist jedes Mal ein tolles Event in Dortmund“, sagt Reiko Lühe und kommt ins Schwärmen über „seine Schwarz-Gelben“.
In diesem Jahr habe er jedoch dafür weniger Zeit gehabt. Neben seinem Job in dem weltweit erfolgreichen Unternehmen der Blechform- und Oberflächentechnik und seinem ehrenamtlichen Engagement in den Vereinen ist der Altmärker noch freiberuflicher Dozent für Gebärdensprache.
In dieser Funktion betreut er eine Familie in Magdeburg mit ihren zwei gehörlosen Kindern, vorwiegend an Wochenenden. Er bringt Eltern wie Kindern die Gebärdensprache bei, um sich verständigen zu können. „Es gibt leider keinen Kindergarten für Gehörlose mehr.“ Die einstige Spezial-Kita in Halberstadt sei geschlossen, die Schule „zum Glück noch nicht“.
Reiko Lühe hat in Halberstadt seine Schulausbildung absolviert, wobei zu seiner Zeit die Gebärdensprache nicht gelehrt wurde. „Ich habe sie mir selbst beigebracht, sie von Mitschülern gelernt, deren Elternhaus Gebärdensprache beherrschte.“ Erst 2002 sei die Gebärdensprache wieder anerkannt worden, „nachdem sie 120 Jahre verboten war“.
Vielleicht habe man deshalb in Deutschland noch so viele Hürden zu nehmen, bis die Gehörlosen voll integriert sind, sagt Lühe und spricht vom Vorhandensein zweier Welten. „Leider ist das noch so.“ Andere Länder seien viel weiter. Am weitesten wohl Neuseeland. „Dort ist die Gebärdensprache als dritte Landessprache anerkannt. Hier streitet man um eine Gesetzgebung, ob der Dolmetscher in der 1. Reihe sitzen darf oder nicht“, sagt Lühe und schüttelt den Kopf.
Wegen solcher „unwirklichen Debatten“ und wegen des Wahlfälschungsskandals 2014 im Kreis Stendal, bei dem auch Stimmzettel von Behinderten für die Manipulierung missbraucht wurden, sei sein Antrieb gewachsen, sich politisch zu engagieren. Im November 2018 habe er per E-Mail bei „Pro Altmark“ sein Interesse an einer Mitwirkung bekundet. Die Wählergemeinschaft habe ihn daraufhin aufgenommen und unterstützte ihn, mit seiner Kandidatur ein Zeichen setzen zu wollen.
Zu den Schwerpunkten, die Reiko Lühe für sich gesetzt habe, gehören neben der Inklusion der Ausbau von Radwegen und der öffentliche Personennahverkehr, der an die Bedürfnisse besser angepasst werden müsste. Er selbst sei davon betroffen, würde zur Arbeit lieber mit der Bahn fahren als mit den Auto. Und, was ihm sehr am Herzen liegt: „Wir sollten weg kommen von der Leistungsgesellschaft, in der alle nur aufs Geld schauen und die Menschen dabei vergessen.“