Stendal l Vögel zu beobachten und sich an ihnen zu erfreuen, ist längst nicht mehr nur ein britischer Spleen. Wer Vögel beobachtet, kann dabei nicht nur Entspannung finden, sondern auch eine Menge lernen: über die Vögel, klar, aber auch über die Natur im Ganzen und – über den Menschen.
Für Ernst Paul Dörfler sind Vögel sogar Vorbild, sie üben auf ihn Faszination aus, wecken seine Bewunderung, ja, sogar eine gewisse Zuneigung. Wer dem Naturliebhaber mit seinem wachen, warmen Blick und dem latent amüsierten Staunen zuhört, ist unweigerlich hingerissen. So hatte man Vögel noch nie wahrgenommen.
Es ist nicht wenig, was wir von den Vögeln lernen können, wie Ernst Paul Dörfler in seinem Buch „Nestwärme“ schildert. Im Gespräch mit der Volksstimme kurz vor seiner Lesung morgen in Stendal skizziert er es so: „Vögel sind friedfertig, pflegen faire partnerschaftliche Beziehungen und Arbeitsteilung, es gibt kein Blutvergießen, keine Geschlechterkämpfe Männchen gegen Weibchen.“ Aber auch die gesunde Lebensweise mit viel Bewegung und naturgemäßer Ernährung gefällt Dörfler. „Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Zuckerkrankheit und Osteoporose gibt es bei ihnen nicht.“
Und noch etwas nimmt ihn für die gefiederten Lebewesen ein – ihre Schönheit. Deren Grund wiederum die Weibchen sind: „Nur sie haben das Wahlrecht, es zählt nur das Schönste vom Schönen. Schönes Gefieder, schöner Gesang...“ Eben nicht Kraft und Macht und atavistisches Gebaren.
Dörflers Augenmerk liegt auf den heimischen Vögeln, also jenen, die zwischen Europa und Afrika wandern, hier brüten oder nur mal Rast machen. Sein Lieblingsvogel? „Die Wahl fällt mir schwer, aber ich mag die Kraniche. Ich finde toll, wie sie im Duett trompeten, abgestimmt auf die Zehntelsekunde. Dann tanzen sie, da fordert mal sie auf und mal er. Zwei Eier legen sie, brüten abwechselnd, jeder Altvogel betreut ein Küken. Und im November verlassen sie aus eigenen Kräften dieses unwirtliche Klima, fliegen bis Spanien, in den Mittelmeerraum – und zwar als Familie.“ Ernst Paul Dörfler gerät regelrecht ins Schwärmen und neidet den Kranichen diesen „schönen Lebensrhythmus“. Auch ihn zieht es im Winter in wärmere Gefilde: „Leider können wir nicht klimaneutral fliegen. Und tun es doch. Das ist auch meine Sünde.“
Obschon Dörfler sein Wissen leichtverständlich erzählend und emotional vermittelt, steckt doch eine Menge Wissenschaft, Beobachtung und Fachlektüre dahinter. Er ist aber ebenso gern und viel draußen in der Natur unterwegs, das Fernglas immer dabei – sogar jetzt auf seiner Lesereise?–, und gibt sein Wissen gern auf Exkursionen weiter. „Ich merke, da ist ein Bedarf der Menschen, der Natur wieder näher zu sein, sie wieder zu verstehen.“ Ihm selber wohnt dieses Bedürfnis schon seit Kindesjahren inne, Schwalben und Gänse waren die ersten Begleiter und Neugierigmacher.
Der sanftmütige und in seinem Anliegen gleichsam insistierend wirkende Mann, der an der anhaltischen Elbe zu Hause ist, findet im Sein in der Natur etwas „sehr Heilsames, Glückseliges“. Die Vogelwelt hat er dabei als Nische für sich entdeckt. „Vögel haben einfach ein schönes Verhalten, ein interessantes Leben. Sie erfreuen unser Herz und unsere Sinne.“
Der Blick aufs Innenleben der Vögel werde zuweilen belächelt, man traue Tieren im Allgemeinen und erst recht den Vögeln ja kein Seelenleben zu. „Dabei ist es erwiesen, dass Vögel die gleichen Hormone im Blut haben wie wir“, begeistert sich Dörfler, „die, die Stress auslösen, genauso wie die, die Liebesgefühle erzeugen.“ Und ja, sogar die Ehe haben die Vögel erfunden, ohne Rollenverteilung: „Sie leben monogam, halten zusammen, beide packen mit an, teilen sich Nestbau, Brüten, Schutz, Futtersuche.“
Der Vogel, so scheint‘s, taugt zum neuen Ideal des Menschen. Und doch gibt es auch Unholde unter den Vögeln. Dörfler schaut verschmitzt, als er andeutet: „Diesen Schmarotzer zum Beispiel, stinkend faul, delegiert seine Arbeit wie ein Vorgesetzter...“ Ja, der unrühmliche Kuckuck. Und doch fühlt Dörfler Mitleid und Anerkennung gleichermaßen: „Er ist ja ein armes Geschöpf, lernt seine Eltern nie kennen.“ Noch dazu hat er niemanden, der ihm das Arttypische und Lebenswichtige beibringt – trotzdem weiß er, wie er ruft und dass er und wann er allein nach Afrika fliegt.
Ein schöner Perspektivwechsel. Drum wagen wir auch die Frage nach schrägen Vögeln. Eher scherzeshalber, da man gerade die Geschichte vom hormonverirrten Pfau der Autorin Isabel Bogdan im Ohr hat, der alles attackiert, was blau ist und also Rivale sein könnte. Aber: Gar nicht so abwegig die Frage, wie Ernst Paul Dörfler vielsagend leise-lächelnd vermuten lässt und gleich verdeutlicht: „Spechte, Meisen, Rotkehlchen... wenn die viel Testosteron im Blut haben, wird alles bekämpft, was wie Konkurrenz aussieht.“ Aha, der Pfau ist also nicht allein. Und Dörfler erzählt von einem Rotkehlchen, das auf sein zum Nebenbuhler gewordenes Ebenbild in einem Spiegel einhackte. „Als es mit dem Brüten losging, benahm es sich aber wieder normal.“
Bei allem Anekdotischen verfolgt Ernst Paul Dörfler eine ernste Mission, ein Herzensanliegen: „In den letzten 30 Jahren haben wir die Hälfte aller Vögel verloren. Und 80 Prozent der Insekten.“ Vor allem die Art der Landnutzung sieht er in einem ganzen Ursachenbündel als den Hauptfaktor. „Die Bewirtschaftung muss wieder naturgerechter werden, das ist keine Utopie, das ist machbar. Auch ohne Pestizide können wir satt werden – wenn wir unseren Fleischkonsum reduzieren und nicht so viele Lebensmittel wegwerfen.“
Maßhalten und das Vorhandene wertschätzen – den Vögeln ist‘s gegeben, der Mensch muss es immer wieder neu lernen. „Die Zeit ist reif“, sagt Ernst Paul Dörfler nachdenklich.
„Nestwärme – Was wir von Vögeln lernen können“ ist 2019 im Hanser-Verlag erschienen, hat 288 Seiten und kostet 20 Euro. Gemeinsam mit dem Förderverein Gertraudenhospital Stendal stellt Ernst Paul Dörfler sein Buch am Freitag, 8. Februar, um 19 Uhr in der Winckelmann-Buchhandlung (Breite Straße 77, Stendal) vor. Eintritt: 5 Euro.