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Blindenleitsystem Stendal aus Perspektive eines Sehbehinderten

Das Blindenleitsystem soll einem Sehbehinderten den Weg weisen. Werden die Rillen- und Noppenplatten in Stendal rund um den Bahnhof ihrer Funktion gerecht? Die Volksstimme sprach mit einem Blinden.

Von Leonie Dreier 13.06.2021, 17:13
Der sehbehinderte Frank Brehmer aus Schönebeck erklärt das Blindenleitsystem auf dem Bahnsteig in Stendal. Wenn der 58-Jährige mit der Bahn verreisen möchte, muss die Fahrt zuvor  genau geplant werden.
Der sehbehinderte Frank Brehmer aus Schönebeck erklärt das Blindenleitsystem auf dem Bahnsteig in Stendal. Wenn der 58-Jährige mit der Bahn verreisen möchte, muss die Fahrt zuvor genau geplant werden. Foto: Leonie Dreier

Stendal - „0151...“, spricht das Handy von Frank Brehmer, als er am Bahnhof in Stendal steht. Er bekommt einen Anruf. Weil der 58-Jährige aus Schönebeck blind ist und nicht sieht, welche Nummer ihn gerade anruft, liest das Handy ihm die Zahlen vor. Bei eingespeicherten Kontakten sagt das Gerät ihm den Namen, erklärt der Landesbeauftragte für Umwelt, Verkehr und Sport des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen-Anhalt. Im Gespräch mit dem Sehbehinderten geht es nicht ausschließlich um die Funktionen seines Handys für Blinde. Vielmehr geht es um die Blindenleitsysteme in Stendal und darüber, wie ein Sehbehinderter sich in der Stadt zurechtfindet.

Als Nichtsehbehinderter stellt man sich die Frage, wie ein Blindenleitsystem funktioniert. Um Einblicke zu bekommen, begleitet die Volksstimme Frank Brehmer vom Bahnhof in Stendal in Richtung Tangermünder Tor. Unabhängig von einem Blindenleitsystem muss der Vater eines Sohnes seine Ausflüge planen. Er kann sich nicht spontan in Schönebeck in den Zug setzen und losfahren. Frank Brehmer meldet sich zuvor bei der Deutschen Bahn, damit ein Mitarbeiter ihn am Zug abholt und zum Taxistand bringt. Anders ist es, wenn seine Partnerin dabei ist. Dann braucht Frank Brehmer die Hilfe anderer nicht. „Meine Freundin führt mich“, sagt er. Sie ist nicht blind und unterstützt ihn, wo sie kann.

Das Leitsystem in Stendal scheint Frank Brehmer hingegen nicht gut führen zu können. Auf dem Gehweg am Busbahnhof hat er Probleme. Die Rillen des Leitsystems sind von den übrigen Platten nur schwer zu unterscheiden. „Das ist sehr alt“, begründet er und tastet mit seinem Stock den Boden ab. Weiter gehts zur Ampel, um die Bahnhofsstraße zu überqueren. Dort sind wieder Rillenplatten verbaut. Weil die Ampel keine Signaltöne von sich gibt, weiß Frank Brehmer ohne Hilfe nicht, wo sie steht. Der Weg führt weiter in Richtung Tangermünder Tor.

Blindenleitsystem: Noppenfelder signalisieren mögliche Gefahr

An einer Straßenkreuzung hält der 58-Jährige an. Noppenfelder auf dem Boden signalisieren, dass dort ein Auto kommen kann und man deshalb vorsichtig sein soll. Der Mann mit seiner dunklen Hose und hellen Jacke achtet aufmerksam auf Umgebungsgeräusche. Seine Kleidung ist dabei nicht zufällig gewählt. Bei seinem Stil hat er konkrete Vorstellungen. „Ich trage gerne hell und dunkel – beispielsweise weiße Hemden und dunkle Hosen.“ Entweder hilft ihm seine Freundin beim Kleidungskauf oder ein Verkäufer. Neben der passenden Farbe ist das Material mitentscheidend. „Ich mag glatte Stoffe.“

Dass er heute überhaupt sagen kann, welche Farben er mag oder wie sein Heimatort Schönebeck aussieht, hat Frank Brehmer mehr als 50 Augenoperationen zu verdanken. „Ich konnte mehrmals im Leben sehen.“ Doch seit 2008 ist er blind. Zuvor sah er 24 Jahre. Zum ersten Mal erblindete er mit neun Jahren nach einem Unfall. Mit 18 sah er wegen der medizinischen Entwicklung immer wieder für eine bestimmte Zeit. Dadurch sei er ein visuell geprägter Mensch. Er kennt die sehende und die nichtsehende Welt, beschreibt sich der 58-Jährige.

Weiter auf dem Weg Richtung Tangermünder Tor befindet sich eine Bushaltestelle mit Leitsystem. „Die Rillen geben mir die Richtung vor, in die ich gehen soll“, beschreibt der Landesbeauftragte. „Einige Platten weisen in eine falsche Richtung, was ein Sicherheitsproblem darstellt“, erklärt er, als er mit seinem Stock über die Rillen fährt. Hier müsste nachgebessert werden.

Blindenleitsystem: Stadtrat lehnt Antrag für ein Leitsystem in der Breiten Straße in Stendal ab

Einen anderen Wunsch zur Nachbesserung gab es in der Breiten Straße, wo die Stadtratsmitglieder vor kurzem den Antrag für ein Blindenleitsystem abgelehnt haben. Frank Brehmer ist enttäuscht über die Entscheidung. „Das Leitsystem wäre eine schöne Geste der Stadt“, sagt er. „Die Ablehnung ist eine vertane Chance. Ich will hoffen, dass man mit der Stadtverwaltung ins Gespräch kommen kann.“ Zum jetzigen Zeitpunkt, weiß der Schönebecker noch nicht, wie er weiter vorgehen wird. Erstmal plant er, Kontakt mit den Antragstellern SPD/FDP/Ortsteile aufzunehmen.

Der Weg führt am Ende zurück zum Bahnsteig. Dort erklärt Frank Brehmer: „Steige ich an einem mir fremden Bahnhof aus und da ist niemand, weiß ich nicht, wo der Ausgang ist.“ In dieser Situation weist ihm das Leitsystem die Richtung, aber nicht den Ausgang an. Daher ist es eine 50:50 Chance, dass er den Ausgang rechts oder links findet. Nach einer kurzen Wartezeit kommt der Zug, der 58-Jährige steigt ein und fährt nach Schönebeck zurück.