Schicksal Die Villa der Harzkäse-Fabrikanten
Die britische Ärztin Julia Nelki schreibt ein Buch über die Villa Russo in der Wernigeröder Feldstraße. Es soll 2019 erscheinen.
Wernigerode l Es ist kein gewöhnliches Haus, das sieht man dem Gebäude in der Feldstraße schnell an. Die alte Villa ist Dreh- und Angelpunkt mehrerer dramatischer Geschichten. Sie spielen kurz nach der Jahrhundertwende, im Ersten Weltkrieg, zur Weltwirtschaftkrise, während des Nationalsozialismus, in der DDR und in den Wirren der Nachwendezeit.
Julia Nelki schreibt sie alle auf. Die britische Ärztin ist selbst Teil der Geschichten, ihre Familie hat einst die Villa in der Feldstraße erbaut und um sie herum die erste Harzkäsefabrik weit und breit begründet. Seit zwei Jahren schreibt sie ein Buch über die Villa Russo. 2019 soll es erscheinen.
„Mein Vater Wolfgang Nelki war der Neffe von Benno Russo. Dessen Bruder Moritz Russo hat die Villa 1883 gebaut“, berichtet die Kinderpsychiaterin aus der Nähe von Liverpool im Gespräch mit der Volksstimme. Was hatte die Brüder Russo überhaupt von Leipzig in den Harz verschlagen? Moritz Russos Frau, Marie Jordan, stammte aus einer Papierfabrikfamilie in Wernigerode. „Sein Schwiegervater bestand darauf, dass Moritz zum evangelischen Glauben konvertierte. Und so wurde er in der Johanniskirche getauft“, sagt die 64-Jährige. „Das sorgte natürlich für Verwerfungen in der Familie.“ In der Villa findet man Symbole für den jüdischen und den christlichen Glauben. Ein großes Fenster im Treppenhaus ziert die christlichen Symbole: Glaube, Liebe, Hoffnung. In den Deckenmalereien findet man Obst, typisch für die Symbolik des Judentums.
Moritz Russo kam in den Harz mit einer einfachen, aber genialen Idee: Er gründete 1893 eine Käsefabrik zur Produktion von Harzkäse, der bis dato nur für den Heimverzehr in den kleinen, privaten Küchen hergestellt worden war. „Woher er das Rezept hatte, weiß ich nicht“, sagt Julia Nelki. Fest steht, dass die Harzer Roller auf dem Gelände bereits Anfang des 19. Jahrhunderts massenindustriell hergestellt wurden. Benno Russo übernahm die Fabrik 1911. Die Brüder arbeiteten bis 1919 zusammen. „Auf dem Gelände waren Bahngleise für den schnellen Transport“, sagt die Britin. In dem roten Backsteinbau auf dem Hof an der Feldstraße wurde der Käse produziert. Im Ersten Weltkrieg belieferten die Brüder die Wehrmacht und die Russen.
„Clara und Benno hatten recht spät geheiratet“, sagt Julia Nelki. „Sie war eine international berühmte Opernsängerin und zur Hochzeit bereits 42, er war 49 Jahre alt.“ Beide waren jüdischen Glaubens, schlossen sich aber keiner Gemeinde an. Clara Russo sei etwas „verloren“ gewesen im kleinbürgerlichen und von der Forst geprägten Wernigerode. Außer ein wenig Salonmusik hatte sie nichts.
Im Nazi-Regime wurden Benno und Clara Russo enteignet und aus der Villa, dem Wohnhaus der Familie, vertrieben. Darauf lebten sie in einer kleinen Wohnung in der Lindenbergstraße 30. Das Paar musste den gelben Stern tragen. Im Winter 1942 wurden sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Benno Russo starb dort am 18. April 1943, seine Frau kam später in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben.
Das Haus war bereits 1936 an einen Schweizer Käsefabrikanten zwangsversteigert worden, der das Paar noch zwei Jahre in dem Wohnhaus leben ließ. Er hatte zuvor in Halberstadt sein Glück versucht, war einer der ersten, die das Pasteurisieren in Deutschland einführten. „Das hatte er in Frankreich gelernt“, sagt Peter Lehmann. Auch der Pfarrer hat sich mit der Geschichte der Russos befasst. Er hat sich in der Stadt jahrelang dafür eingesetzt, dass das Erinnern an die von den Nazis ermordeten jüdischen Bürgern der Stadt nicht nachlässt. Stolpersteine, Gedenktafeln im Rathaus und in der Villa Russo gehen auch auf sein Engagement zurück. Mit Julia Nelki und ihrem Mann Michael ist er schon lange in Kontakt.
1938 war Schluss mit der Produktion von Harzkäse in der Feldstraße. Durch die restriktive Wirtschaft der Nazis gab es keinen Quark mehr für die Fabrik als notwendiges Rohmaterial für den Käse. Der Schweizer Fabrikant verkaufte die Immobilie am 17. Juni 1938 für 59 000 Reichsmark an Paul Rockstedt, ein aktives NSDAP-Mitglied. Wichtig: Im Grundbuch ließ er nach dem Krieg vermerken, dass es sich um einen Zwangsverkauf handelte. Nach Kriegsende wurde die Villa 1948 beschlagnahmt. Erst wurde sie von der Konsumgenossenschaft genutzt, dann Volkseigentum. Später kam dort ein Teil der Berufsschule und des VEB Industriebaukombinates, schließlich auch die Andrä-Bau GmbH unter. „In der DDR hat man sich nie kritisch mit der Geschichte der Villa auseinandergesetzt“, sagt Peter Lehmann. „Auch das Gedenken der Opfer der Novemberprogrome wurde weitgehend den Kirchen überlassen.“
Julia Nelki, die 1953 in London geboren wurde, hatte zwar vom Schicksal der Familie gehört, kam aber selbst zum ersten Mal erst nach der Wende nach Wernigerode. Ihre Eltern Wolfgang und Erna Nelki seien vor 1989 häufig mit ihr nach Ost- und West-Berlin gereist, wo sie Freunde hatten. „Ich kenne die Mauer von beiden Seiten“, sagt sie. Nach Wernigerode kam sie jedoch erst 1995, um an einer Feier teilzunehmen, bei der die Gedenktafel für Benno und Clara Russo eingeweiht wurde. „Das war sehr emotional“, erinnert sie sich. Im wiedervereinigten Deutschland gehen die Wirren um die Villa weiter: Ihre Eltern als Nachkommen der Russos hätten die Villa dem Landkreis gerne geschenkt, um dort ein soziales Zentrum einzurichten und einer Behindertenschule die Zukunft zu sichern. Doch auch die Nachfahren Paul Rockstedts stellten einen Antrag auf Rückübertragung. Ein jahrelanger Rechtsstreit entbrannte. Doch die Einigungsverträge von 1990 besagen, dass alles, was vor 1949 enteignet wurde – und dazu zählte die Villa – Bestand hatte. Beide erhielten Unrecht.
Die Nelkis stritten mit der Hilfe eines deutschen Freundes weiter. Wolfgang Nelki starb 1992, seine Frau Erna 2002. Julia Nelki und ihr Bruder Michael bekamen 2008 schließlich Recht. Zu einem Dreiviertel wurde die Villa den Jewish Claims zugesprochen, die die Entschädigungsprogramme für Opfer der Schoah verwalten, ein Viertel erhielten die Nelkis. Ausschlag hatte der Grundbucheintrag des Schweizer Fabrikanten gegeben, der den Zwangsverkauf festhalten ließ. Da die Kosten für die Instandhaltung der Villa einzig von den Nelkis getragen werden sollten, entschloss sich das Paar, die Villa versteigern zu lassen.
Mit ihrem Mann Michael, einem gebürtigen Deutschen, ist sie seither häufig zu Gast in einer Ferienwohnung auf dem Villa-Russo-Areal, das seit 2008 der Orchestermusikerin Barbara Toppel gehört. Sie hatte es in der Versteigerung erworben – und erfüllt das Gebäude seither mit Leben. In einem Teil des Komplexes sitzt der Internationale Bund. In einem anderen betreibt Barbara Toppel eine kleine Pension. In der Villa selbst finden jährlich die Belcanto-Kurse der Opernsängerin Doreen Defeis und weitere Meisterkurse für verschiedene Instrumente statt. Während des Klavierwettbewerbs „Neue Sterne“ wird die Villa auch von Solisten zum Proben genutzt. Die Pianisten selbst sind auf dem Gelände in der Pension untergebracht. „Ich finde bewundernswert, wie Barbara all das aufgebaut hat“, sagt Julia Nelki. „Und es wäre ganz im Sinne von Clara Russo.“
Auch der Harzkäse hat mittlerweile wieder seinen Weg in die Familie gefunden. „Ich stelle meinen eigenen her in unserer Küche. Ich bin noch am Experimentieren“, verrät Michael Göpfert. Der Mann von Julia Nelki habe sich von der Familiengeschichte seiner Frau inspirieren lassen. „Ich mag nur leider keinen Harzkäse“, sagt sie und lacht.