Landkreis Börde Privatquartiere für Waffentester
Der Bau und Betrieb der Heeresversuchsanstalt Hillersleben in den Jahren der Nazizeit strahlte auf die gesamte Region aus.
Hillersleben/Meseberg l Zahlreiche Fach- und Hilfskräfte arbeiteten in der militärischen Stelle zur Erforschung und Erprobung neuer Waffentechnik. Und die mussten untergebracht werden, wie Historiker Wilfried Lübeck berichtet. Seit dem Jahr 1936 testete die Wehrmacht in der Colbitz-Letzlinger Heide bei Hillersleben Artilleriewaffen. Ein Jahr zuvor begann bereits die inoffizielle Inbetriebnahme. Später sind auch schwere Waffen erprobt worden. Dabei bekamen die Befehlshaber bei der Entwicklung des Standortes Schützenhilfe von der obersten Reichsregierung. „Im Jahr 1945 notierte Rüstungsminister Albrecht Speer: ‚Der Führer entscheidet auf meinen Vorschlag, der Versuchsanstalt jede Unterstützung zu gewähren’“, erzählt Historiker Wilfried Lübeck gegenüber der Volksstimme. Auf das Zitat sei er während der Recherchen zu einen anderen Thema im Landeshauptarchiv Magdeburg gestoßen.
Auf der Suche nach weiteren Akten und Papieren wurde der Groß Ammensleber abermals fündig. „Noch im Herbst bemühte sich der Gauleiter von Magdeburg-Anhalt und Oberpräsident der Provinz Magdeburg, Rudolf Jordan, um Unterbringung und Beköstigung von zusätzlichem Personal für die Erprobung mit dem ’Fleißigen Lieschen’“, berichtet der Historiker weiter. Er verweist auf ein Schreiben Jordans an den Landrat in Wolmirstedt sowie das „Amt für Volkswohlfahrt“ der NSDAP-Kreisleitung Wolmirstedt vom 21. Oktober 1944. Darin heißt es: „Für einen Kursus der Festungsartillerieschule sind in Dolle für 70 Offiziere vorübergehend Privatquartiere bei enger Belegung zur Verfügung zu stellen. Die Bereitstellung der Quartiere erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Kreisamt der Volkswohlfahrt.“ Laut Wilfried Lübeck gab es solche Befehle auch für Ortschaften in der heutigen Niederen Börde, so für Meseberg und Samswegen. Auch seien Colbitz, in Letzlingen und in Wedringen Privatquartiere zur Verfügung gestellt worden. „Als Problem erwies sich die Verköstigung der vielen Offiziere“, hat Wilfried Lübeck herausgefunden. Dies sollte durch die Vergabe von entsprechenden Marken der NS-Volkswohlfahrt geregelt werden.
Doch die bereits zur Verfügung gestellten Quartiere reichten nicht aus. So erreichte am 14. November 1944 eine Nachricht des Hillersleber Kommandanten, Oberst Seithers, den Reichsverteidigungskommissar Magdeburg-Anhalt und Gauamtsleiter Otto Krüger mit folgendem Inhalt: „Kommandantur Hillersleben benötigt zum Unterbringen der neu aufzustellenden Artillerie-Abteilung 705 die Säle der Gastwirtschaft Kammerhof sowie der Gastwirtschaft Stichnoth. Um Freigabe und baldigste Benachrichtigung wird gebeten.“
„Mit dem Machtantritt Adolf Hitlers im Jahr 1933 begann die Militarisierung in Deutschland. Schon im Dezember 1934 gab es erste Pläne Hitlers, mit Reichswehrminister Werner von Blomberg in der Colbitz-Letzlinger Heide einen Schießplatz von 27 Kilometer Länge zu errichten“, erzählt Wilfried Lübeck über die Entstehung der Heeresversuchanstalt Hillersleben. Nach der Inbetriebnahme im Jahr 1936 folgten technische Anlagen modernster Art sowie Kasernen, „so dass mit Kriegsausbruch auch sogenannte Wunderwaffen in der Heide getestet worden sind.“
Dazu gehörte die „Kanone V3“. Der Tarnname des sogenannten Mehrfachkammergeschützes mit einer geplanten Reichweite von 140 Kilometern lautete „Fleißiges Lieschen“. Die Waffe war konzipiert worden, um von Frankreich aus London zu beschießen. Mit zwei ähnlichen Superkanonen wurde Luxemburg von Dezember 1944 bis Februar 1945 beschossen. „Das ‚Fleißige Lieschen’ brachte es aber nur auf 40 Kilometer“, erklärt der Groß Ammensleber Historiker.
Neben dem „Fleißigen Lieschen“ gehörte auch das sogenannte „Dora-Geschütz“ zu den in Hillersleben getesteten schweren Waffen. Dabei handelte es sich um die „80-Zentimeter-Kanone E“, ein großes und schweres Sondergeschütz der Wehrmacht. Hergestellt wurde es von den Krupp-Werken unter dem Namen „Schwerer Gustav“. Es war das weltweit größte und aufwändigste mobile Geschütz, das jemals im Einsatz war. Insgesamt wurden zwei Exemplare gebaut, von denen nur das später von den Artilleristen so genannte „Dora-Geschütz“ zum einzigen Kampfeinsatz kam, nämlich während der Belagerung Sewastopols auf der Krim im Juni 1942.
Außerdem wurden bereits nach der Zerschlagung der Rest-Tschechei im Jahr 1939 dort erbeutete Waffen nach Hillersleben geschafft und erprobt.
Dass trotz der Mobilmachung in Sachen Wunderwaffen in der Heeresversuchsanstalt der Krieg bereits verloren war, dürfte auch Joseph Goebbels bereits im Herbst 1944 aufgegangen sein. So schrieb der Propagandaminister und Reichsbevollmächtigte laut Wilfried Lübeck am 2. September 1944: „Es ist das alte Lied, dass führende Offiziere nicht mehr an den Sieg glauben. Würden an den entscheidenden Frontabschnitten brutale Parteigänger regieren und führen, so wäre die Sache vermutlich gänzlich anders.“
Am 13. April 1945 erreichten übrigens Truppen der 9. US-Armee und der 2. US-amerikanischen Panzerdivision die Heeresversuchsanstalt. Bis 1994 nutzte die Sowjetarmee das Riesengelände. Heute befindet sich hier der Truppenübungsplatz Altmark mit dem Gefechtsübungszentrum Heer der Bundeswehr.