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Ohre Muss die Ohre in Wolmirstedt ausgebaggert werden?

22.04.2021, 17:13
Sowohl im Uferbereich als auch mitten im Fluss gibt es Anlandungen. Die sind bei Flussexperten durchaus erwünscht.
Sowohl im Uferbereich als auch mitten im Fluss gibt es Anlandungen. Die sind bei Flussexperten durchaus erwünscht. Foto: Gudrun Billowie

Von Gudrun Billowie Wolmirstedt

Die Bürgerinitiative „Rettet die Ohre“ hat am Donnerstag hunderte Unterschriften gesammelt. Doch was bedeutet es eigentlich, eine Ohre zu retten? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

Die Unterschriftenlisten füllten sich schnell. Fast vierhundert Bürger wollen die Ohre in einem anderen Zustand sehen und unterstützen am Donnerstag mit ihrer Unterschrift innerhalb weniger Stunden das Anliegen der Bürgerinitiative „Rettet die Ohre“. Die fordert, dass Verlandungen und Schilf entfernt sowie Uferbereiche gemäht werden. Die Initiatoren der Bürgerinitiative um Hartmut Hoppe fürchten, dass die Ohre verschwindet und sich ein Niedermoor bildet. Unterzeichnerinnen wie Christa Renkwitz erinnern sich daran, dass sie als Kinder in der Ohre gebadet haben. Was sagen Experten dazu? Wird die Ohre wirklich durch Schilf und Verlandung bedroht?

Ausbaggern gilt als kontraproduktiv

Burkhard Henning, Direktor des Landesbetriebs für Hochwasserschutz (LHW), hat die gesamte Ohre im Blick und sieht den Fluss auf einem guten Weg zu einem ausgeglichenen Ökosystem. Dazu zählen auch Schilf und Verlandungen. Ausbaggern gilt eher als kontraproduktiv, weil dabei unterirdische Lebensräume zerstört werden. Weiterhin fordern industrielle Einleitungen, die es vor der Wende zuhauf gab, ihren Tribut. „Zu DDR-Zeiten war das Artenspektrum stark zurückgegangen. Inzwischen hat sich die Wasserqualität verbessert, mehr Tier- und Pflanzenarten konnten sich ansiedeln und überleben.“

Nabu-Vorsitzender Jörg Brämer nennt vor allem den Fischotter als Beispiel. „Man sieht ihn kaum, aber es gibt viele.“ Wer Beweise sucht, findet sie unter anderem unter der Elbeuer Brücke. Bei deren Neubau wurde ein Otterngang angelegt, da die Tiere gern auf Steinen an Ufern entlangstromern. Die Spuren auf diesem Otterngang erzählen von regem Hin- und Her dieser Tiere.

Lebewesen brauchen Steil- und Flachufer

„Fischotter schätzen auch Höhlen unter den Baumwurzeln“, erklärt Brämer. Deshalb zählen überhängende Wurzeln als Pluspunkte für das gesamte Ökosystem, ebenso wie Flachufer, Schlammbänke und alles dazwischen. „Diese Vielfalt zeichnet einen natürlichen Fluss aus“, sagt Jörg Brämer.

Doch bei aller Renaturierung bleiben die Anliegen der Menschen im Blick. Für die Ohre im Bereich Wolmirstedt bedeutet das beispielsweise, sie bekommt im Bereich des Fischerufers wegen der dichten Bebauung weniger Spielraum, als im Bereich des Jungfernstiegs, wo sie sich mehr ausbreiten kann. Wenn sie den Platz braucht.

Momentan fließt sie gemächlich in ihrem Bett. Macht es also Sinn, die Verlandungen zu entfernen und damit das Flussbett zu verbreitern? Die Wasser-Experten widersprechen dieser Forderung der Bürgerinitiative. Solche Sandbänke gehören zur Natur des Flusses dazu, macht Burkhard Henning deutlich, sie seien wichtig für aquatische Lebenswelt, für Fische, Flusskrebse und andere Makrolebewesen, die unter anderem Fischen als Nahrung dienen.

Verlandungen engen den Querschnitt ein

Verlandungen verengen den Querschnitt, ermöglichen dem Fluss, ausreichend schnell zu fließen, selbst, wenn er weniger Wasser führt. „Nur wenn der Fluss schnell fließt, nimmt er ausreichend Sedimente mit“, sagt Jörg Brämer. Ausgerechnet die Verlandungen sorgen also dafür, dass der Fluss in Bewegung bleibt.

Die Ohre führt seit Jahren nur wenig Wasser. Seit drei Jahren regnet es wenig, das trockenste Jahr war 2018. Trotzdem bedienen sich Menschen der Ohre, zweigen unterwegs Wasser ab. Das beginnt mit den Landwirten in Niedersachsen und setzt sich fort in Satuelle, wo Wasser für den Trinkwasserspeicher in der Colbitz-Letzlinger Heide abgeleitet wird.

„Die Wassermengen, die der Ohre entnommen werden, sind bilanziert“, erklärt Burkhard Henning, „es wird errechnet, wieviel entnommen werden kann, ohne dass die Natur Schaden nimmt. Es gibt zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt eine länderübergreifende Arbeitsgruppe, weil die Nutzungsansprüche überreizt sind.“ Heißt: Die Ohre hat längst nicht so viel Wasser, wie die Menschen aus diesem Fluss nutzen wollen. Um der Natur zu genügen, die Gewässerökologie zu gewährleisten, müssen die Landkreise beim LHW nachfragen, wieviel Wasser jeweils entnommen werden kann.

Ohre gibt Wasser für Landwirte und Wasserwerk Colbitz

Die Vorgaben gelten auch für die Trinkwasserversorgung Magdeburg (TWM), die das Colbitzer Wasserwerk betreibt. Seit 1963 entnimmt ein Pumpwerk in Satuelle Wasser aus der Ohre, leitet es über einen Kanal in die Colbitz-Letzlinger Heide, wo es über mehrere Jahre versickert und das Grundwasser anreichert. Das wiederum wird aus Brunnen an die Oberfläche gepumpt, durchläuft das Wasserwerk und wird von dort aus in die Region geschickt.

„In den vergangenen Jahren wurden dafür zwischen 10 und 20 Millionen Kubikmeter Ohrewasser pro Jahr entnommen“, weiß TWM-Sprecher Peter Bogel, „in der Regel in den Monaten November bis Mai.“ Auch die TWM macht sich Sorgen, insbesondere weil wegen der klimatischen Entwicklung von einer noch intensiveren Nutzung der Ohre ausgegangen wird. Damit jeder seinen Teil Ohre abbekommt, wünscht sich die TWM, dass sich die Nutzer künftig noch besser abstimmen.

Die Ohre ist etwa 103 Kilometer lang, entspringt im niedersächsischen Ohrdorf und mündet bei Rogätz in die Elbe. Wolmirstedt liegt also ziemlich am Ende des Flusslaufs. Die Ohre ist weit davon entfernt, ein natürlicher Fluss zu sein, es gibt Wehre, Abzweigungen für Mühlengräben, sie fließt durch unbewohnte Gegenden und Städte. Deshalb muss jeder Flussabschnitt gesondert betrachtet werden. Im LHW werden hydraulische Modelle erarbeitet, die das Profil des Flussbettes zeigen. „Daraus schließen wir unter anderem, ob bei Hochwasser genug Wasser abfließen kann“, erklärt Burkhard Henning.

Für den Abfluss spielt Schilf keine Rolle

Für den Wasserabfluss spielt es keine Rolle, ob am Ufer Schilf oder Brennnesseln wachsen. Die werden bei Hochwasser überspült. Deshalb sieht sich der LHW nicht in der Pflicht, den Bewuchs am Ohreufer zu entfernen. Auch wenn die Brennnesseln entlang der Ohrepromenade im vergangenen Jahr den Blick auf die Ohre verdeckten, aus flusstechnischer Sicht sind sie kein Problem. Optisch hingegen schon.

Wer mäht die Brennnesseln ab?

Deshalb hat der Nabu in den vergangenen Jahren den Bewuchs kurzgehalten, ist aber nicht dafür zuständig und hat derzeit auch kein Personal. Die Stadt mäht lediglich eine Mähbreite neben dem Weg. Müssen Bürger also mit diesem Anblick der wuchernden Brennnesseln auf dem Uferstreifen leben? LHW-Chef Burkhard Henning ist überzeugt, das Problem lasse sich im Rahmen einer Gewässerschau zusammen mit der Stadt lösen.

Hartmut Hoppe ist Initiator der Bürgerinitiative "Rettet die Ohre". Im Lindenpark sammelten er und seine Mitstreiter fast 400 Unterschriften.
Hartmut Hoppe ist Initiator der Bürgerinitiative "Rettet die Ohre". Im Lindenpark sammelten er und seine Mitstreiter fast 400 Unterschriften.
Foto: Gudrun Billowie