Heute vor 20 Jahren wird in Zerbst das Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt gegründet Eine fesselnde Idee, ein Sprachfehler, Abenteuerzeit und beachtliches Heute
Auf den Tag genau heute vor 20 Jahren beginnt in Zerbst die Geschichte des Albert-Schweitzer-Familienwerkes Sachsen-Anhalt. Gründungsmitglieder und Wegbegleiter blicken zurück.
Zerbst. "Noch ganz bewusst" kann sich Melitta Klatt an den Abend des 28. Juni 1990 erinnern. In der Zerbster Puschkinpromenade, im Gebäude der Volkssolidarität, kamen damals 36 Interessierte zusammen. Bernd Papke hatte das Treffen initiiert, wollte Mitstreiter finden für seine Idee eines – so der Arbeitstitel – Kinderland e.V. Ein Kinderdorf entstehen zu lassen, war damals das vorrangige Anliegen.
"Er brauchte mich nicht zu überzeugen. Ich war von Anfang an begeistert", erzählt die Zerbsterin. Heute Berufsberaterin bei der Arbeitsagentur Dessau-Roßlau ist sie damals in der Abteilung Berufsbildung/Berufsberatung bei der Kreisverwaltung in Zerbst beschäftigt. Wie Bernd Papke auch. Er bringt seine Idee an diesem Abend "mit so viel Herzblut herüber, hat alle anderen mitgerissen".
Gast des Treffens in der Puschkinpromenade ist auch Heiner Theiß aus Uslar vom Albert-Schweitzer-Familienwerk Niedersachsen. Seine Worte werden dazu beitragen, dass der neue Verein am 11. Juli 1990 als Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt mit Sitz in Zerbst ins Vereinsregister eingetragen wird. Erster Vorsitzender ist Bernd Papke.
"Alles Quereinsteiger"
Für Melitta Klatt ist von Anfang an klar, "dass ich da mit rein gehe". Nicht nur, dass sie selbst aus einer kinderreichen Familie stamme, auch die Freude an der beruflichen Beschäftigung mit Kindern und Jugendlichen, "das ist mir irgendwie in die Wiege gelegt", sind gute Gründe. Vor allem aber auch Bernd Papkes ansteckender Enthusiasmus. "Er hat das gelebt und wir haben damals Feuer gefangen."
Nicht alle der 36 Anwesenden werden Mitglieder des neuen Vereins. Heute ist von den Gründern neben Melitta Klatt nur noch Erika Höpner noch Familienwerk-Mitglied.
Der Verein beginnt seine Tätigkeit im September 1990 mit der Ausbildung benachteiligter Jugendlicher in einer Jugendwerkstatt in Zerbst. Im April 1991 übernimmt das Albert-Schweitzer-Familienwerk Sachsen-Anhalt das Kinderhaus Kropstädt im Landkreis Wittenberg und das Zerbster Geschwister-Scholl-Heim. Das erste Haus des dezentralen Kinderdorfes wird am 12. April 1991 in Deetz eröffnet.
Heute hat der Verein 161 Mitglieder. 330 Mitarbeiter kümmern sich in verschiedensten Einrichtungen um an die 400 Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderung.
"Das hätte damals keiner gedacht, dass sich das so entwickelt", blickt Melitta Klatt zurück. "Wir waren ja alle Quereinsteiger. Vieles war spontan. Wurde besprochen und dann einfach gemacht, umgesetzt. Und dann hat man immer gedacht, es ist wieder was geschafft, hat sich gefreut."
Diese Aufbruchstimmung, das teils Abenteuerliche der erste Jahren erlebt auch Jürgen Geister mit. Der gebürtige Altmärker ist 1992 in einem Kinderheim bei Hildesheim beschäftigt, als er beruflich noch einmal "was Spannendes" sucht. Er bewirbt sich auf eine Anzeige in Zerbst. Beginnt als Psychologe für die Einrichtungen des Familienwerkes – anfangs noch zwei Tage die Woche bei der alten, zwei Tage die Woche bei der neuen Arbeitsstelle. "Im Westen war alles schon so geordnet. Hier gab es die Möglichkeit, noch viel zu bewegen. Das hat mich begeistert." Jürgen Geister erinnert sich unter anderem schmunzelnd an jene "Besenkammer", die sein Therapiezimmer im Scholl-Heim war. "Aber das war egal. Man hat nicht auf die Zeit geguckt. Es war toll."
Gegossen, gewachsen
Es kommt der Zeitpunkt, an dem das stetig wachsende Familienwerk geordnetere Strukturen als die der "wilden Anfangsjahre" braucht. Es ist der Zeitpunkt, zu dem Ingeborg Bräutigam kommt.
Die diplomierte Sozialpädagogin ist beim Jugendamt des Landkreises beschäftigt, als sie der Loburger Pfarrer Götz Boshamer, ebenfalls im Ehrenamt beim Familienwerk, zum Mitmachen motiviert. "Wir brauchen Leute wie dich, sagte er. Und ich dachte, es wird mir eigentlich zu viel", so Ingeborg Bräutigam. "Aber ich habe auch einen Sprachfehler, kann nicht nein sagen." So sitzt sie 1993 in einer Familienwerk-Versammlung in der Villa "Musik & Kunst", kassiert wegen falschen Parkens ein 30-D-Mark-Knöllchen – aber bleibt dabei. Ihr Fachwissen, auch das um die neuen gesetzlichen Grundlagen, hilft dem Verein. "Besserwessi"-wisserisch ist sie nie. "Ich wollte mein Wissen einbringen, konnte aber immer auch unendlich viel mitnehmen."
1996 wird Ingeborg Bräutigam nach Bernd Papke, Martin Teitke und Georg Credo Vorstandsvorsitzende des Albert-Schweitzer-Familienwerkes. Bis heute im Amt, ist sie "froh und stolz, dass ich das machen kann, das Vertrauen habe". Für sie ist es "eine der schönsten Aufgaben, die ich jemals hatte".
Dabei ist nicht alles in der Familienwerk-Entwicklung "alltagstauglich", wie es Ingeborg Bräutigam in ihrer Rede zur Festveranstaltung anlässlich des 20-jährigen Bestehens am 2. Juni in der Stadthalle sagt. "Da war eine Idee, waren Menschen, die das aufgebaut haben. Es ist gewachsen, weil es gegossen wurde. Aber es war auch immer wieder mal Unkraut dazwischen", beschreibt es Melitta Klatt. Zunächst Vorstandsmitglied ist sie bis 2008 stellvertretende Vorsitzende, musste die Funktion aus Zeitgründen aufgeben, "aber ich bin nach wie vor 100-prozentiges Mitglied".
Stabilisieren, was da ist
Als bereits stellvertretender Geschäftsführer ab 1994/95 arbeitet auch Jürgen Geister, der seit vergangenem Jahr alleiniger Geschäftsführer ist, am Aufbau der neuen Organisationsstrukturen mit. "Was wir heute haben, können wir stabilisieren. Davon verstehen wir etwas", sagt er. Eine abenteuerliche Zeit sei das heute nicht mehr. "Wir haben zu kämpfen wir alle Träger in der Kinder- und Jugendhilfe." Auch das Klientel werde nicht einfacher. Umso wichtiger sei "der Zusammenhalt der Leute untereinander und dass Probleme zur gegenseitigen Zufriedenheit gelöst werden."
An Höhen und Tiefen, manche schlaflose Nacht erinnern sich Melitta Klatt und Ingeborg Bräutigam. Jene, die in den 20 Familienwerk-Jahren dabei waren, haben Besonderes geleistet.
Bei Melitta Klatt ist die Begeisterung des Anfangs geblieben. "Wir haben am 29. Juni Hochzeitstag", erzählt sie. "Am 28. Juni 1990, habe ich zu meinem Mann gesagt, bin ich noch einmal eine Verbindung eingegangen."