Einstmals belebte Geschäftsstraße ist heute namentlich geteilt, zugleich weiter noch wichtige Nord-Süd-Verbindung Fritz-Brandt-Straße: Vier Namen binnen 100 Jahren
Unter dem Motto "Kennen Sie Ihre Heimat?" suchten wir in dieser Woche den früheren Namen der heutigen Fritz-Brandt-Straße. Erneut schilderten zahlreiche Leser ihre Erinnerungen an die "alte" Bahnhofstraße.
Zerbst l Die 83-jährige Erika Krötzsch aus Zerbst erkannte die heutige Fritz-Brandt-Straße als damalige Bahnhofstraße und wusste, dass sie den Namen deshalb hatte, weil dort die Schienen der Pferdebahn zum Bahnhof entlanggingen. Im Haus vorn rechts war der Klempnermeister Hermann Giese ansässig. Im Haus dahinter, wo das kleine Mädchen steht, fand im Hausflur ein Eierverkauf statt. An der Ecke Bahnhofstraße/Breite waren das Haus der Familie Tegelfischer und ein Korbmöbelgeschäft zu finden. Im Haus links, vor dem die zwei Frauen stehen, befand sich ein Lebensmittelgeschäft. Als Kinder gingen sie dort früher mit einem Strick, an dem ein Holz befestigt war, zum Aschern in die Geschäfte. Sie selbst wohnte damals in der Mühlenbrücke.
Liesbeth Straube aus Deetz, neben Annemarie Gründer aus Zerbst eine unserer regsten Heimatfoto-Rätselfreundinnen, erkannte die frühere Bahnhofstraße auf Anhieb. "Wir sind dort oft entlang gegangen in Richtung Bahnhof. Ich kann mich auch noch gut an den Fotografen Just neben dem Pfarrhaus von St. Bartholomäi erinnern, wo wir fotografiert worden sind."
Die Mandeln gezogen
Eine spezielle Erinnerung an diese Zerbster Straße hat Dr. Jürgen Hartmann aus Zerbst. "Im Haus Nr. 23, in welchem sich heute die Buchhandlung Gast befindet, praktizierte damals Sanitätsrat Dr. Fiedler. Er hat mir in ganz jungen Jahren die Mandeln gezogen. Es gab einen ganz kurzen Rausch, und als ich wieder wach wurde, hab\' ich in der Blechschale vor mir die beiden kleinen Kullern liegen sehen. Das war gar nicht so besonders schlimm, und ich musste die Zeit danach den Hals kühlen, unter anderem mit einer Portion Eis." Heutzutage ist eine Mandel-Operation eine vergleichsweise aufwendige Angelegenheit. "Unvorstellbar, dass dies ein Arzt heute ambulant machen würde", meint Hartmann.
"Das war meine Straße"
Annemarie Lüdicke aus Zerbst hat recht umfassendes Wissen über diese gesuchte Straße. Sie hieß bis in die NS-Zeit hinein im gesamten Verlauf ab der Breite bis hinauf zur Leopoldstraße (heute Karl-Marx-Straße) Bahnhofstraße, dann jedoch "Adolf-Hitler-Straße". Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges wurde sie in "Fritz-Brandt-Straße" umbenannt. Bereits zuvor war nämlich die heute noch existente Bahnhofstraße entstanden. "Wir wohnten in der Bahnhofstraße 86, der heutigen Jeverschen Straße schräg gegenüber der Einmündung Phillipp-Müller-Straße", so Frau Lüdecke. Ein großes Problem entstand, weil man nach dem Krieg sehnlichst auf ein Lebenszeichen ihres Vaters wartete. Denn er konnte unmöglich als Zieladresse "Adolf-Hitler-Straße" benennen. "Mein Großvater ist zu jener Zeit häufig in die Bahnhofstraße 86 hinüber gegangen und hat dort nachgefragt, ob vielleicht Post von seinem Sohn angekommen sei."
Ansonsten sei dies "ihre" Straße gewesen. Ihr Urgroßvater Louis Krause war bis 1903 Pfarrer in St. Bartholomäi, anschließend in St. Marien. Eine in der Familie überlieferte kleine Geschichte handelte von einer ihrer Großmütter, Martha Hohmann. Sie nahm beim bekannten Chorleiter Franz Preitz im Pfarramt von St. Bartholomäi (links der Kirche neben den "Dicken Turm" zu sehen) Gesangsunterricht. Und ihr Großvater Paul Krause stand dann stets andächtig auf der Breite und hörte in tiefer Zuneigung zu.
Die einstige Bahnhofstraße war, so Frau Lüdecke, bis an die Einmündung der Kastanienallee heran durchweg eine Einkaufsstraße. "Die Kaufleute hatten in meiner Kindheit bereits nahezu alle ein Telefon. Das wurde mir zum Verhängnis, als ich als Dreijährige flott allein durch die Stadt marschierte und eigentlich zur Rennstraße ins Lutherhaus wollte, wo Verwandte lebten. An der Ecke zur Breite hat mich dann der Inhaber eines Kolonialwarengeschäftes beim sorglosen Überqueren der Straße ausgemacht und meinen Großvater angerufen. Da war mein Streifzug dann schnell zu Ende", schmunzelt sie noch heute. In der Straße gab es neben vielen weiteren Geschäften den Fleischermeister Naumann, einen Korbmachermeister und auch das Kaufhaus Markus. "Das war ein evangelisch getaufter Jude. Ihm wurde zur NS-Zeit geraten, in einen anderen Ort zu ziehen, wo sein Judentum also nicht allgemein bekannt war. Meines Wissens hat er die schlimme Zeit dadurch auch unbeschadet überstanden." Sie erzählte auch vom Sanitätsrat Fiedler, der sich am Kriegsende mit seiner Frau das Leben nahm.
Sehr lange her sind auch die Erlebnisse von Margarete und Walter Anhold, die sie mit der ehemaligen Bahnhofstraße verbinden. In den 30er Jahren nutzen sie selbst die Pferdebahn, um auf Reisen zu gehen. "Die Schienen verliefen vom Markt bis zum Bahnhof", erzählt Margarete Anhold. "Wir sind selbst mit der Pferdebahn gefahren, wenn wir die Koffer dabei hatten", erläutert ihr Ehemann weiter. Damals sind sie von der Pferdebahn in den Zug gestiegen, um weiter nach Dessau oder Leipzig zu fahren. Dort besuchten sie Freunde. "Damals muss die Fahrt mit der Pferdebahn etwa 20 Pfennig gekostet haben. Wer einen Koffer hatte, musste extra für das Gepäck zahlen", weiß Walter Anhold noch heute.
Mit Koffer auf der Pferdebahn
Heidrun Franke kann sich an die Nachkriegszeit gut erinnern. Während des Krieges geboren, lief sie später als junges Mädchen immer die Straße entlang, um zur Christenlehre zu gelangen. "Die Straße war schließlich eine Hauptader der Stadt, die zum Markt führte", erklärt sie. Nach dem Krieg klaffte ein großer freier Platz an der Straße, dort stand ein "wunderschöner, großer Baum. Darunter hatte man eine Bank aufgestellt, dort konnte man schön sitzen", sagt Heidrun Franke.
Auch Frieda Giese erinnerte sich sofort an die ehemalige Bahnhofstraße, als sie unser Heimatfoto- rätsel in der Volksstimme sah. "Ich bin oft mit meiner Oma in der Pferdebahn dort entlang gefahren. Sie war Handelsfrau und hat Spargel verkauft. Das war unser Weg zum Bahnhof", erzählt die Zerbsterin, die 1919 geboren wurde. Das sei immer ein Erlebnis für sie als kleines Kind gewesen. "Und dort, wo das Mädchen auf dem alten Bild steht, da war damals die Fleischerei Sauer zu finden", ist sie sich sicher.
Die Redaktion hat unter den Anrufern ein kleines Präsent verlost. Über eine Volksstimme-Frühstückstasse kann sich Annemarie Lüdicke aus Zerbst freuen. Die Tasse kann werktags zwischen 9 und 17 Uhr in der Redaktion abgeholt werden.