Die "Führungsaufsicht" für zwei entlassene Sexualstraftäter im Altmarkdorf ist ein heikles Thema. Von Michael Bock Insel: Eine Frage der Kontrolle
Für die beiden im Altmarkdorf Insel lebenden entlassenen Sexualstraftäter gelten Auflagen, etwa ein Alkoholverbot. Nur: Wer kontrolliert das? Selbst regierungsintern ist umstritten, ob Justizministerin Angela Kolb (SPD) die Führungsaufsicht streng genug ausübt.
Insel l In Freiburg hielt man sie für gefährlich. Für sehr gefährlich. Bis zu acht Polizisten begleiteten Hans-Werner W. (54) und Günter G. (64) bis zum April 2011 auf Schritt und Tritt. Eine 24-Stunden-Observation. Ziel: neue Gewalttaten verhindern. Kosten für die Rund-um-die Uhr-Bewachung: 40000 Euro. Pro Woche. Pro Person.
Im September 2010 waren sie aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden. Grundlage war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. W. reagiert pampig auf die Überwachung. Die Polizisten sollten ihm "ein bisschen von der Pelle bleiben", sagt er im Fernsehen: "Das ist manchmal extrem nervig." W. geht gerichtlich dagegen vor, scheitert aber.
Seit Juli 2011 sind beide im Altmarkdorf Insel. Dort gibt es keine Tag-und-Nacht-Begleitung mehr. Grund: W. war drei Monate zuvor von der höchsten Gefahrenstufe 1 in die Gefahrenstufe 2 (hohes Gefahrenpotenzial) herabgestuft worden. Laut Polizeidirektion (PD) Nord ist die Polizei derzeit permanent "mit einer angemessenen Anzahl von Polizeibeamten" vor Ort. Zudem wurden zwei Kameras installiert.
Die Männer müssen sich an Auflagen halten. Dazu gehört: kein Alkohol oder andere berauschende Mittel, keine Messer in der Wohnung, keine Saunabesuche. Mit Frauen dürfen sie nicht allein in Fahrzeugen sein. Nur: Wer kontrolliert das? Wann? Wie oft? Mit welchem Ergebnis?
Für die "Führungsaufsicht" zuständig ist Justizministerin Angela Kolb (SPD). In Regierungskreisen grummelt es. Frau Kolb, so wird kritisiert, gehe recht lax mit der Aufsicht um. Konkrete Angaben über Häufigkeit und Intensität der Prüfungen wollte das Justizministerium auf Volksstimme-Anfrage nicht machen. Es werde der Kernbereich der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen berührt, hieß es. "Deren Offenbarung könnte zumindest auch den Anfangsverdacht der Verletzung von Dienstgeheimnissen begründen." Herr W. habe bislang alle Weisungen der Führungsaufsicht befolgt. Justiz und Polizei sagen übereinstimmend, dass bis dato keinerlei Verstöße bekannt geworden sind.
Mittlerweile gibt es Zweifel, ob die Gründe, die zu einer Risiko-Herabstufung von W. geführt hatten, momentan noch gegeben sind. Ein wichtiger Punkt war seine Therapiebereitschaft. Eine Therapie schließt er jetzt aber aus.
Vorige Woche hat W. zwei Volksstimme-Redakteuren aus der Altmark ein Interview gegeben. Im Beisein des früheren Grünen-Landtagsfraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Tschiche, der das Gespräch vermittelt hat, relativiert W. seine Taten plötzlich wieder. Reue oder Opferempathie sind nicht erkennbar. Autorisiert werden Sätze von W. wie diese: "Ich war nie gefährlich und kein Triebtäter. Diese Vergewaltigungen waren nie geplant. Ich habe mir ein Taxi bestellt, weil ich getrunken hatte und nach Hause wollte. Dann hab ich mit der Fahrerin ganz normal geredet und sie gefragt, ob sie sich was dazu- verdienen will. Ich hab ihr 100 Mark gegeben, aber dann wollte sie nicht mehr." Im Gespräch mit den Volksstimme-Redakteuren fügte er hinzu: "Da bin ich ein bisschen robust geworden, denn wenn ich eine Ware bezahlt habe, will ich sie auch haben."
W. bestätigt im Volksstimme-Gespräch, dass er keine Therapie gemacht habe. Er spricht von "Gehirnwäsche".
Angesichts solcher Äußerungen wächst der Druck auf Kolb, eine neue Risikoanalyse vornehmen zu lassen. Sollte diese negativer als die vorangegangenen ausfallen, müssten die Auflagen wieder verschärft werden.
Zur Vorgeschichte: Im August 1978 vergewaltigt W. in Freiburg nach einem Kneipenbummel unter erheblichem Alkoholeinfluss brutal eine Taxifahrerin. Danach zwingt er die Studentin, ihm Geld und Schmuck zu geben. Der damals 21-Jährige wird zu einer Haft von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Im Oktober 1981 wird er aus der Haft entlassen. Nur einen Tag später begeht er ein neues Verbrechen. Auch diesmal geht er, erneut im Alkoholrausch, brutal vor. Seinem Opfer, wieder eine Taxifahrerin, splittern zwei Zähne ab. Doch diesmal entkommt die Frau. W. wird zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
Im Mai 1986 schlägt er erneut zu. Er vergewaltigt, wieder unter Alkoholeinfluss, eine Taxifahrerin. Jung und blond, wie die beiden anderen auch. Die Freiheitsstrafe diesmal: fünf Jahre.
Das Landgericht Heilbronn stellt die Prognose aus, dass W. ähnliche Taten verüben werde, sobald er wieder in Freiheit sei. Es wird Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese wird im September 2010 aufgehoben. Es wird eine auf fünf Jahre festgesetzte "Führungsaufsicht" angeordnet.
Im August, also einen Monat zuvor, haben Experten des baden-württembergischen Landeskriminalamts eine sogenannte Risikobewertung von W. vorgenommen. Im Südwesten der Republik gibt es - anders als in Sachsen-Anhalt - die gemeinsam von Polizei und Justiz getragene Zentralstelle KURS (Konzeption zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftätern).
Die Experten kommen zum Ergebnis, dass bei W. von einer sehr erheblichen Rückfallgefahr auszugehen ist. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Taten oder eine Änderung seiner Haltung zu Frauen seien nicht erkennbar. Er könne keine erfolgreiche Therapie vorweisen. W. leugne die Tatverantwortung, spreche von Missverständnissen, er zeige weder Reue und Schuld noch Opferempathie. Er wird als labil, kontaktarm, leicht erregbar beschrieben. Er gilt als übersensibel gegenüber Kränkungen, insbesondere von Frauen.
Ein Alkoholkonsum mit anschließender Vergewaltigung sei in zeitlich kurzem Abstand zur Entlassung von sehr großer Wahrscheinlichkeit.
W. wird in die höchste Gefahrenkategorie 1 eingestuft.
Im Januar 2011 kommt das Angebot des Freiburger Tierarztes Edgar Freiherr von Cramm (dieser hat familiäre Wurzeln in der Altmark), dass Hans-Peter W. und Günter G. in das 400-Einwohner-Dorf Insel in Sachsen-Anhalt umziehen. Dort habe er ein Haus, die entlassenen Straftäter könnten in Insel die Außenstation eines Tierheims einrichten und auf dem nahegelegenen Biobauernhof arbeiten. Allerdings: Zu diesem Zeitpunkt gehört das Haus von Cramm offenbar noch gar nicht. Und aus den angeblichen Jobangeboten ist bis heute nichts geworden.
W. präsentiert sich plötzlich von einer ganz anderen Seite. Auf einmal wird er als offen bezeichnet, er sei bereit zur Therapie. In der forensischen Ambulanz nimmt er regelmäßig an Behandlungsstunden teil. W., so heißt es jetzt, trete stets höflich und zuvorkommend auf. Er habe ein Problembewusstsein hinsichtlich seiner Taten entwickelt.
Die überraschende Wandlung zahlt sich für Hans-Peter W. aus. Er wird in die Gefahrenstufe 2 (hohes Gefahrenpotenzial) herabgestuft. Im Juli 2011 kommt er mit Günter G. nach Insel. Dort ist es bald vorbei mit der dörflichen Beschaulichkeit: Die Inseler erfahren durch eine Indiskretion schnell vom Vorleben der neuen Mitbewohner. Es gibt Demonstrationen, Debatten im Landtag, bei den Kundgebungen marschieren Rechtsextremisten auf.
Im Mai 2012 zieht W. nach Chemnitz. Auch dort wird seine Identität enthüllt, auch dort gibt es Proteste. W. flüchtet zurück nach Insel. Wieder gibt es Demos, es kommt zu Ausschreitungen. Anfang Juni versuchen Demonstranten, das Haus der entlassenen Straftäter zu stürmen, werden aber von der Polizei abgedrängt. Das Haus wird mit Gittern und Hunden gesichert.
Das Leben des Hans-Peter W. war von Anfang an verkorkst. Er wächst die ersten sechs Lebensjahre als ältestes von fünf Kindern bei seinen Eltern auf. Danach kommt er ins Heim. Sein Vater ist trunksüchtig und gewalttätig. Die Mutter kann ihr Kind nicht mehr beschützen. Bis zum 18. Lebensjahr ist W. in Heimen. Er macht den Hauptschulabschluss, arbeitet als Gärtner, später in einer Schlosserei. Er schließt sich einer Werberkolonne an, es folgen weitere Jobs. Mit 19 wird er erstmals ein Fall für die Gerichte. Wegen gemeinschaftlichen Betruges kommt W. vier Wochen in den Jugendarrest. Es folgen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beihilfe zum Diebstahl, Sachbeschädigung.
Nein, für gefährlich hält W. sich nicht: "Ich bin kein Monster, das jemandem hinterm Busch auflauert. Keine Insulanerin muss Angst haben, vergewaltigt zu werden."