Mauertour 4 Grünes Band: Kein Spontanbesuch im Sperrgebiet
Die vierte unserer sechs Mauertouren führt von Salzwedel nach Arendsee und zurück. Unterwegs lohnt sich ein Besuch im Heimatmuseum in Arendsee.
Salzwedel/Arendsee l Die Glocken der Katharinenkirche, wo einst die friedliche Revolution in Salzwedel begonnen hat, rufen gerade zum Gottesdienst, als ich an diesem Sonntagvormittag an der Unterführung nicht weit vom Salzwedeler Bahnhof stehe. Mein Auto habe ich auf einem Parkplatz am Bahnhof in Salzwedel abgestellt.
Mit Schwung geht es die Unterführung hinunter. Auf einem Plattenweg radele ich entspannt in Richtung Hoyersburg. Und kurz nach dem Start meiner "Mauertour" stoße ich selbst an eine Grenze. Ein großer Bauzaun versperrt den Weg. Ich bekomme einen Eindruck davon, wie sich solche Hürden anfühlen. Zum Glück treffe ich einen Ortskundigen, der mir einen kleinen Tipp gibt. Also kann ich meine Tour fortsetzen und bin einige Zeit später auf der anderen Seite des Bauzauns. Ich möchte mit meinem Helfer gern über die Grenze sprechen. Doch der alte Mann ist nicht zum Plaudern aufgelegt. "Da, wo heute das Schild steht, war Schluss", sagt er nur. In Hoyersburg sehe ich einen Mann im Garten arbeiten. Ob er etwas über die Zeit weiß, als die Grenze noch bestand? Volltreffer. Helmut Marth berichtet, noch vor Hoyersburg habe die Polizei gestanden und kontrolliert. Dann sei der Schlagbaum gekommen. "Und da ging es nicht mehr weiter", erzählt er. Die Grenze sei für ihn eine Belastung gewesen.
An den Tag des Mauerfalls kann er sich noch gut erinnern: "Wir waren bei einem Geburtstag in Salzwedel." Seine Tochter, die er eigentlich vom Bahnhof in Salzwedel abholen sollte, kam nicht. "Sie wurde von ihrem Freund abgeholt und ist mit ihm über Bergen/Dumme gleich weiter." Seine jüngere Tochter schickte Marth am nächsten Tag noch zur Schule, "man wusste ja nicht, was nun ist". Und dann fuhr er selbst auf die andere Seite der Grenze, wurde sogar von einem Fernsehteam interviewt. Als er dort so stand, habe er am ganzen Körper gezittert. "Da passierte hier in Hoyersburg aber noch nichts", fährt er fort. Die Grenze dort wurde am 23. Dezember, 6 Uhr, geöffnet. Auf "der anderen Seite" war ein großer Saal vorbereitet. Dort sei den Menschen, die über die Grenze kamen, noch erzählt worden, dass der Kfz-Sperrgraben noch zugemacht werden musste, ehe die Grenze geöffnet werden konnte.
Erst ab Mitternacht sei es dann auch für BRD-Bürger möglich gewesen, in die DDR einzureisen. "Da war was los", erinnert sich Marth. Und alles auf der einfachen Teerstraße, die an der Seite nur einen Sommerweg gehabt habe. "Als die Grenze aufging, ging für mich eine Welt auf", sagt er. Ost-West-Gehabe mag er gar nicht.
Ich bedanke mich bei ihm und setze meine Tour fort. Das Bürgerholz, in das sich ein Abstecher lohnt, lasse ich heute rechts liegen und fahre weiter auf dem Radweg entlang der Bundesstraße. Hinter dem Waldstück lugt zwischen einigen Bäumen der einstige Grenzturm hervor. Wenig später stehe ich vor der riesigen braunen Tafel. "Hier war Schluss", denke ich. Aber ich darf weiterradeln. Kurz vor Lübbow biege ich rechts ab. Ob ich auf dem Weg richtig bin, weiß ich nicht. Denn eine Beschilderung fehlt. Aber sicher ist, ich bin in der Lüchower Landgrabenniederung - einst eine unzugängliche, sumpfige Moorlandschaft. Birkhühner, Rohrdommeln und sogar Sumpfschildkröten lebten hier. Durch die Entwässerung und Kultivierung der Landschaft sind diese Arten aber längst verschwunden. Reste der Sumpflandschaft sind noch erhalten.
Wenig später treffe ich eine Familie beim Sonntagsspaziergang. Einige von ihnen haben die Zeit des Mauerbaus in Berlin miterlebt.
"Das Schlimmste ist gewesen, dass ich meine Oma nicht mehr besuchen konnte", sagt eine Frau mittleren Alters. Eine Vorstellung, die ich mir nicht ausmalen möchte. Schließlich beginnt auch eine Ausschilderung des Radweges. In Volzendorf sind es noch 18 Kilometer bis Arendsee. Unterwegs warte ich auf einen Wegweiser in Richtung Wüstung Jahrsau. Vergeblich. Jahrsau war ein Dorf, das 1946 immerhin 39 Einwohner zählte. Heute gibt es das Dorf nicht mehr. Ab 1952 wurden die Dorfbewohner zwangsausgesiedelt, 1970 die Gebäude abgerissen. Nur einige stille Zeitzeugen gibt es noch, wie etwa alte Obstbäume und Fundamente. Mich überkommt ein beklemmendes Gefühl.
Ich würde gern rasten. Aber nichts: keine Bank, kein WC, kein Café. In Schrampe sind die Straßen wie leergefegt. Doch wieder treffe ich jemanden am Gartenzaun. Schrampe lag mitten im Sperrgebiet, erzählt mir der Mann. Spontane Grillabende mit Freunden habe es damals nicht gegeben. Wer im Sperrgebiet wohnte, musste Besuch etwa vier Wochen vorher anmelden. Nicht weit von seinem Haus sei der erste Grenzzaun verlaufen. Nur die Hauptwege habe man befahren können. Aber: "Man gewöhnt sich dran, man hat sich angepasst." Und immerhin: "Für Menschen, die im Sperrgebiet wohnten, gab es eine Entschädigung von 50 Mark im Monat. Und wenigstens war es hier nicht übervölkert", sagt er. Seinen Namen? Nein, den möchte er für sich behalten.
Am frühen Nachmittag erreiche ich den Arendsee und fahre am Gelände des Segelclubs vorbei. Ich will das Heimatmuseum besuchen. Dort wird sich sicherlich etwas in Erfahrung bringen lassen. Doch Grenzgeschichte wird dort nicht gezeigt. Stattdessen stoße ich auf die Geschichte des Klosters und Infos zum Arendsee. Und hier gibt es auch ein WC. Wenig später sitze ich auf einer Bank vorm Kloster in der Sonne. Aufgrund seiner Grenznähe hätte auch Arendsee im Fünf-Kilometer-Sperrgebiet gelegen. Widerstand in der Region verhinderte das jedoch. Auch Birgit und Karsten Rudorf aus Salzwedel kennen den See von früher. Heute sind sie zum Spazieren da. "Und meistens, wenn wir hier sind, laufen wir auch eine Runde um den See", erzählen sie. Früher sei das nicht möglich gewesen. Eingesperrt hätten sich die Eheleute dennoch nicht gefühlt. Sie erinnern sich, dass man mit dem Ruderboot den See umrunden konnte. Nur anlegen durfte man im Sperrgebiet nicht. Beide bestätigen, dass sich eine einzigartige Flora und Fauna entlang des Grünen Bandes entwickelt habe. Die zehn Kilometer lange Tour rund um den See, wo es Rastplätze und Möglichkeiten zur Einkehr gibt, spare ich mir heute und trete die Rücktour an.
Bevor ich zum Ausgangspunkt der Tour zurückradele, lasse ich mir eine kleine Runde durch den mittelalterlichen Stadtkern von Salzwedel nicht nehmen.