Kritik an EKD-Maßnahmenplan Missbrauch: Betroffene beklagen schleppende Aufarbeitung
Tatort Pfarrhaus: Anfang 2024 erschütterte eine Studie zur sexualisierten Gewalt die evangelische Kirche. Wie viele Kinder in kirchlichen Einrichtungen Leid erfahren haben, ist immer noch ungewiss.
Hannover - Das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ist ein Jahr nach der Präsentation der ersten bundesweiten Missbrauchsstudie noch völlig unklar. Seit der Vorstellung der Ergebnisse hätten sich mehr Betroffene gemeldet als zuvor, sagte der Betroffenen-Vertreter Detlev Zander der Deutschen Presse-Agentur. Es gebe allerdings eine Hemmschwelle und Angst, sich nach dem als Kind erlebten Leid an kirchliche Stellen – also die Täterorganisation - zu wenden. Dringend notwendig sei die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle, wie sie die EKD angekündigt habe.
„Wir brauchen darüber hinaus ein zentrales Melderegister“, fordert Zander, der in einem Kinderheim im baden-württembergischen Korntal zigfach vergewaltigt wurde. Aus Sicht des 63-Jährigen sollte ermöglicht werden, Fälle sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen online zu melden. Zander ist Betroffenen-Sprecher im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Dokumentierte Fälle nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“
Die sogenannte Forum-Studie, die am 25. Januar 2024 in Hannover vorgestellt wurde, dokumentiert mindestens 1.259 beschuldigte Mitarbeiter sowie 2.225 betroffene Kinder und Jugendliche in EKD und Diakonie. Die ermittelten Fälle seien nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“, sagte der Leiter der unabhängigen Studie, Martin Wazlawik. Während für eine ähnliche Studie zu Missbrauch in der katholischen Kirche rund 38.000 Personalakten von Geistlichen geprüft wurden, waren es für die evangelische Kirche und Diakonie nur 5.000 bis 6.000 vorwiegend Disziplinarakten.
Im vergangenen Sommer korrigierte die Landeskirche Hannover ihre Zahlen nach oben, und zwar von mindestens 140 Betroffenen seit 1945 auf mindestens 190. Zuvor hatte unter anderem Jakob Feisthauer von der Betroffenen-Initiative „Vertuschung beenden“ die Zahlen kritisiert.
Im Alter von 13 bis 15 Jahren wurde Feisthauer von einem Diakon sexuell missbraucht, als 15-Jähriger zeigte er ihn im Jahr 2002 an. Der Kirchenmann wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Vorgesetzte des Täters in Großburgwedel erhielten schon 1996 Hinweise auf entsprechende Vorwürfe.
Forum-Studie laut EKD „wichtiger Impuls“
Nach Angaben der EKD war die Forum-Studie „ein wichtiger Impuls und Ausgangspunkt für weitere Schritte der Aufarbeitung und Prävention zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“. Die EKD, die die Studie in Auftrag gegeben und finanziert hatte, verwies auf ihren Ende 2024 auf der Synode in Würzburg beschlossenen Maßnahmenplan.
Laut einem EKD-Sprecher arbeiten EKD, Landeskirche und Diakonie aktuell daran, die Verarbeitung und Dokumentation von Meldungen zu vereinheitlichen. Ein Ziel seien einheitliche Standards für die Meldestellen und -verfahren. Auch sollen dem Sprecher zufolge alle Personalakten von Personen mit direktem Kontakt zu Kindern und Jugendlichen unter Aufsicht der neuen Regionalen Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen überprüft werden. Diese Gremien sollen in diesem Frühjahr an den Start gehen.
„Wenn Kirche nicht sicher wird, hat sie auch keine Zukunft“
Der Maßnahmenplan sei nur sehr oberflächlich formuliert, kritisiert Jakob Feisthauer. „Es ist Stillstand wahrzunehmen.“ Der Betroffene befürchtet, dass die angekündigte unabhängige Ombudsstelle keine Entscheidungskompetenz bekommen wird.
Detlev Zander bemängelt, dass das Thema Schutz vor sexualisierter Gewalt in vielen Gemeinden bisher nicht angekommen sei. „Das Thema ist für die evangelische Kirche existenziell“, betont der 63-Jährige. „Wenn die evangelische Kirche nicht sicher wird, hat sie auch keine Zukunft.“
Ende 2023 gehörten laut EKD rund 18,6 Millionen Menschen einer der 20 Landeskirchen an, dies waren 3,1 Prozent weniger als im Vorjahr.
ZDF-Reportage zeigt von Aufarbeitung enttäuschte Betroffene
Eine Ursache für den Mitgliederschwund ist vermutlich der Umgang mit sexualisierter Gewalt. Die Aufarbeitung lässt Betroffene oft enttäuscht zurück. Dies schildert die TV-Reportage „Leben nach dem Missbrauch“ aus der Reihe „37 Grad“, die am Dienstag (28. Januar) um 22.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt wird. Eine der Protagonistinnen ist Nancy Janz, Betroffenen-Sprecherin im Beteiligungsforum der EKD.
Im vergangenen Juni hatte Janz in einem Vortrag vor der Landessynode der Landeskirche Hannover in Loccum geschildert, wie sie in Celle als 17-Jährige von einem Geistlichen sexuell missbraucht wurde. Sie habe sich nach einer Familie gesehnt. „Er nahm sich meinen Körper und ich durfte dazugehören“, sagte Janz, die in Bremen lebt. Vertreter der Kirche hätten sie damals im Stich gelassen. So habe unter anderem die Frau des Kirchenvorstehers ihr lediglich geraten, sich von dem Täter fernzuhalten.