Polizeistruktur Unfallopfer wartet eineinhalb Stunden
Die Polizeistrukturreform sollte mehr Beamte auf die Straße bringen. Doch lange Wartezeiten gibt es weiter, zeigen Beispiele.
Magdeburg l Als die 52-jährige Gabriela Benecke mit ihrem Auto auf dem Magdeburger Ring am 17. Oktober dieses Jahres auf dem Weg von ihrer Arbeit nach Hause ist, regnet es leicht. Ihr Auto gerät in Höhe der südlichen Stadtgrenze wegen einer Ölspur ins Schlingern. Sie verliert die Kontrolle, der Wagen überschlägt sich im Straßengraben. Dann ist alles ruhig. Sie greift nach dem Sicherheitsgurt und öffnet ihn, kann offensichtlich unverletzt aussteigen. Dann wählt die Kassiererin um 16.45 Uhr den Notruf der Polizei. Das Unfallopfer kann den Beamten genau schildern, wo sie mit dem Wagen steht. Sie berichtet von der Ölspur und davon, dass sie sich mit dem Auto überschlagen hat. Auf die Frage, ob sie verletzt sei, sagt sie: „Mir ist zum Glück nichts passiert.“
Inzwischen stoppen andere Autofahrer, fragen, ob sie helfen können. Darunter ist auch eine Ärztin, die empfiehlt in jedem Fall noch mal eine Klinik aufzusuchen. Gabriela Benecke: „Ich rief gleich meine Familie an.“ Ihre Tochter und der Ehemann treffen kurze Zeit später am Unfallort ein. Doch von der Polizei ist noch immer nichts zu sehen. „Mein Mann hat dann auch ein Foto von der Ölspur gemacht“, sagt sie.
Jetzt ist es schon 17.25 Uhr und sie setzt den zweiten Notruf ab, weil es auf der Gegenfahrbahn inzwischen auch einen Unfall gab und dort offensichtlich Blaulicht flackerte.
So warten nun die Familie und der Abschleppdienst auf die Polizei. Um 18.05 Uhr, so belegt später auch der Speicher des Handys die Zeit, erfolgt der inzwischen dritte Notruf. Die Dämmerung setzt inzwischen ein. Dann endlich taucht ein Streifenwagen auf. Es ist etwa 18.15 Uhr. Das Unfallopfer erinnert sich: „Die Beamten notierten ein paar Angaben, meinten, dass die Ursache nicht angepasste Geschwindigkeit war und wollten von der Ölspur nichts wissen. Die war durch die einsetzende Dunkelheit auch kaum noch zu sehen. Richtig ernst genommen fühlten wir uns da nicht.“ Zum Glück habe die Familie dann aber doch später alles mit der Versicherung regeln können.
Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) sagt: „Das ist ein Einzelfall, aber definitiv nicht die Regel.“ Die Einsatzkräfte müssten angesichts des gestiegenen Arbeitspensums Prioritäten setzen. Bei Gefahr für Leib und Leben komme die Polizei sofort. Bei einem Einbruch, bei dem der Täter nicht mehr vor Ort ist, könne es deshalb auch mal ein bisschen länger dauern.
So wie zum Beispiel bei René Weinelt aus Löderburg im Salzlandkreis. Er musste am 1. Juni dieses Jahres geschlagene dreieinhalb Stunden auf die Polizei warten. Als er an jenem späten Nachmittag in seine Gartenlaube kam, ahnte er nicht, was ihn erwartete. Die Tür war aufgebrochen, ein elektrisches Gartengerät verschwunden. Den ersten Anruf unter 110 setzte er um 17 Uhr ab. Weinelt: „Zwischendurch telefonierte ich immer wieder mit den Beamten. Da sagte man mir, es könne schon eineinhalb Stunden dauern, weil sie einen Wagen aus Bernburg schicken müssten.“
Am Ende traf der Wagen um 20.30 Uhr ein. Die Beamten fotografierten den Schaden und fuhren davon. „Seither habe ich nichts mehr von der Sache gehört“, sagt er. Im Fall von Stefanie Greger aus Quedlinburg am 21. September kam die Polizei erst gar nicht. In ihrem Keller ist eingebrochen worden und das daraus entwendete Fahrrad stand draußen von einem Unbekannten angeschlossen vor der Tür. Das berichtet sie an jenem Abend der Polizei.
Die Beamten sagten ihr, sie müsste etwa 45 Minuten warten. „Ich wartete also eineinhalb Stunden unten. Dann rief mich die Polizei zurück und meinte, dass sie erst in zwei Stunden kommen könnten“, erinnert sie sich. Weil sie wegen ihrer Frühschicht nicht länger warten wollte, sagten die Beamten, sie solle am nächsten Tag persönlich vorbeikommen und Anzeige erstatten.
Die Erfahrungen spiegeln sich ganz offensichtlich auch in den durchschnittlichen sogenannten „Interventionszeiten“ der Polizei wider. Sie stiegen im Land Sachsen-Anhalt laut einer Erhebung des Innenministeriums von 18:43 Minuten im Jahr 2011 auf etwa 24 Minuten. Immerhin: Wenn Gefahr für Leib und Leben besteht oder Täter auf der Flucht sind, benötigen die Beamten im Durchschnitt nur 17 Minuten. Im dritten Quartal seien die anvisierten 20 Minuten in keinem der Landkreise mehr überschritten worden, so der Innenminister. Die im Januar eingeführten Streifenkreise hätten sich bewährt. Stahlknecht ist überzeugt: „Wir sind durch die neue Struktur schneller und mobiler als vorher.“ Allerdings räumt auch er ein, dass bei der gegenwärtigen Arbeitsbelastung Abstriche gemacht werden müssten. „Wir müssen Prioritäten setzen und improvisieren auch.“
Die neuen „Streifenkreise“ funktionieren im Wesentlichen so, dass die Funkwagen in der Fläche so unterwegs sind, dass sie innerhalb von maximal 20 Minuten am Einsatzort sein könnten. Dabei werden keine Revier- oder Landkreisgrenzen mehr beachtet. So kann ein Fahrzeug aus dem Bereich Salzwedel auch in Stendal zum Einsatz kommen oder eben ein Wagen aus der Börde in Magdeburg. Das Innenministerium verspricht sich davon vor allem hohe Flexibilität. Der Einsatzleitbeamte in der Notrufzentrale sieht die zur Verfügung stehenden Wagen auf seinem Bildschirm und kann so den Nächstgelegenen einsetzen.
Vorausgesetzt einer steht zur Verfügung, was nicht immer der Fall sein soll. Die Gewerkschaft der Polizei im Land kritisiert die Personalnot schon lange. Sie verteilte erst vor einigen Wochen an die Polizisten sogar 10.000 Beschwerdekarten, die die Beamten an Bürger verteilen sollten, falls die Fahrt zum Einsatz mal wieder länger gedauert hat. Darauf stand: „Wenn Sie mit dem Polizeieinsatz nicht einverstanden sind, weil sie zu lange auf uns warten mussten oder weil wir uns nicht weiter um sie kümmern konnten, wenden Sie sich bitte an die: Zentrale Beschwerdestelle des Innenministeriums. Am Ende wurde das Verteilen der Karten aber innerhalb des Dienstes untersagt, weil es sich „um eine unzulässige Verquickung der polizeilichen Dienstgeschäfte mit einer gewerkschaftlichen Betätigung handelte.“
Der Vorsitzende der GdP Sachsen-Anhalt, Uwe Petermann, hält die „präkere Lage“ auch ohne Flüchtlingskrise für eine „Quittung der Sparpolitik der vergangenen Jahre.“ Man hätte vorhersehen können, dass die Personaldecke nicht ausreicht. Petermann: „Die Einführung der Regionalbereichsbeamten und die Streifenkreise sind ja eine kluge Sache. Sie funktionieren aber nicht mit dem Personal. Und in der jetzigen Situation erst gar nicht.“
Sein Kollege von der Deutschen Polizeigewerkschaft DpolG Wolfgang Ladebeck: „Die Streifenkreise sind gebildet worden, um die Reaktionszeiten zu verbessern. Doch diese sind schon gar nicht mehr so besetzt, wie sie sein sollten. Das kann also schon zu längeren Wartezeiten führen. Ich kann versichern, dass die Kollegen trotzdem so motiviert sind, in akuten Notlagen rechtzeitig da zu sein.“