Grenzwanderung Am geheimen Grenzbahnhof
30 Jahre deutsche Einheit: Doch ist das, was zusammengehört in der Zeit auch zusammengewachsen? Heute: von Oebisfelde nach Helmstedt.
Helmstedt l Es ist 9.40 Uhr, ich sitze auf einer Bank vor dem Bahnhof in Oebisfelde. So langsam werde ich unruhig. Als ich mein Telefon gerade rausholen und nachfragen will, ob unser vereinbarter Termin noch steht, hüpft Uwe Jürgens im knallorangefarbenen Shirt aus seinem Van. „Sie sind also die Wanderin?“, fragt er mich. Bingo. Schnell sind wir beim Du. Das liegt vor allem daran, dass Jürgens seine Sätze gern mit „weißt du?“ abschließt. Da ist wenig Skepsis, aber viel Offenheit. Auch deshalb, weil dieser Bahnhof für Jürgens früher so etwas wie ein Sehnsuchtsort war und sein 18-jähriges Ich bei unserem Treffen wieder ganz nahe ist.
Oebisfelde war zu DDR-Zeiten ein Eisenbahnknotenpunkt, bereits 1880 war hier eine Eisenbahnwerkstatt, später dann das Betriebswerk der Deutschen Reichsbahn, entstanden. Hier standen auch die Universal-Loks der Baureihe 41. Das wusste jeder, aber für DDR-Bürger waren sie trotzdem unerreichbar. „Das war absolutes Sperrgebiet“, erzählt Jürgens, „man wusste immer, da stehen sie irgendwo, aber dieser Bahnhof war Geheimsache, wir kamen einfach nicht ran.“
Wenn Jürgens von diesem Ort spricht, gestikuliert er mit den Händen, macht immer wieder eine Greifbewegung. Diese Faszination für Eisenbahnen war und ist groß. In der DDR bekam er sie aber eben nicht zu fassen. So war das halt damals. Dabei ließ der Klötzer kaum eine Gelegenheit ungenutzt. Seinen Grundwehrdienst leistete er bei den DDR-Grenztruppen in Buchhorst. 1986 marschierte er ins Büro des Betriebswerks-Chefs Walter Olbrich, um nach einer Erlaubnis zum Fotografieren der Dampfloks zu fragen. „Als Erstes hat der mich erstmal kontrolliert, ob ich denn auch wirklich Grenzsoldat war“, erinnert sich Jürgens, „und dann gnadenlos abgeschmettert.“ Wenn er mal zum Arzt in Oebisfelde musste, dann nur per Lkw, immer unter Kontrolle. „Diese ganze Zeit war von viel Misstrauen geprägt“, sagt er.
Zwar kam er nur alle zwölf Wochen mal nach Hause, weshalb innerhalb der Grenztruppe eine starke Gemeinschaft entstand. „Aber selbst da gab es nie ein richtiges Vertrauensverhältnis.“ Erst eine halbe Stunde vor Dienstbeginn erfuhr er, mit wem er die nächsten acht Stunden am Zaun Dienst schieben muss. Damit auch ja niemand auf die Idee kommt, Fluchtpläne zu schmieden. Es sei eine intensive Zeit, eine, die ihn geformt hat, gewesen. Im Extrem-Kältewinter bei -25 Grad nachts am Zaun zu wachen, sei kein Vergnügen gewesen, aber Jürgens würde diese Zeit auch nicht als schlimm bezeichnen, stellt er klar.
Seine Einheit war dafür verantwortlich, etwaige Fluchtversuche gleich von Beginn an zu unterbinden. „Wir sollten die Leute aufspüren, bevor sie überhaupt die Zäune erreichen.“ Die Anweisung sei gewesen: die Leute dreimal anschreien mit „Hey, halt, stehenbleiben“, dann auf die Füße schießen. In seiner Zeit als DDR-Grenzsoldat gab es einen Durchbruch, seine Waffe musste er nie einsetzen.
Am Ende unseres Treffens lenke ich unser Gespräch wieder auf das Hier und Heute. Jürgens hat unsere Grenzwanderung verfolgt, er fängt an zu lachen, sagt sofort: „Ich habe die Grenzöffnung positiv erlebt, das ist das Beste, was uns passieren konnte.“ Mir ist schnell klar, dass er damit auch den bisherigen Tenor meiner Reise durchbrechen will. „Was mich traurig macht im Herzen, das ist dieser Zerfall hier überall.“ Das System vom Westen, das hätte man den ehemaligen DDR-Bürgern einfach übergestülpt. Und so kann Jürgens durchaus verstehen, wenn die Menschen in der Umgebung unzufrieden und frustriert sind. Er selbst ist froh, dass er die DDR miterlebt hat. „Viele von uns können dadurch gesellschaftliche Entwicklungen heute viel realer bewerten.“ Das heißt? „Der Ossi hinterfragt mehr, ist kritischer.“
Noch ein Foto, dann winke ich Jürgens zu und mache mich wieder auf den Weg. Das war eines der kürzeren, aber eines der interessantesten Treffen bisher. DDR-Bürger mussten für ihre Freiheit kämpfen, sich erst gegen das System auflehnen, um etwas zu erhalten, das für mich heute selbstverständlich ist. Insofern kann ich Jürgen‘s Argumentation verstehen. Wem nichts fehlt, der ist eben weniger geneigt, zu hinterfragen. Doch ist das nur ein netter philosophischer Gedanke oder zutreffend für Menschen in Niedersachsen? Zeit für einen Perspektivwechsel.
Und so wandere ich weiter, passiere Bahrdorf. Eine kleine Gemeinde im Landkreis Helmstedt. Viel Getreide, viele Zuckerrüben werden hier angebaut. Schicke Einfamilienhäuser, viele VWs mit Wolfsburger Kennzeichen reihen sich aneinander. Bald soll hier ein Kindercampus mit Kita, Grundschule und Sporthalle entstehen. Kein schlechter Ort zum Leben. Auch Renate Müller zog es vor zehn Jahren von Wolfsburg hierher. Ist denn schon zusammengewachsen, was zusammengehört? „Die Menschen, die Grenze an Grenze wohnen, kommen gut miteinander aus“, sagt sie. Zwischen Oebisfelde und Bahrdorf, das sei eine gute Verbindung. „Aber wie das zum Beispiel in Wolfsburg aussieht, darüber reden wir lieber nicht“, sagt Müller und macht deutlich, dass sie das wörtlich meint. „Da sieht‘s also schon wieder anders aus?“, stolpert es hastig aus mir heraus. „Ganz anders“, sagt Müller, hebt die Augenbrauen und marschiert weiter.
Es war ein Unterschied, ob Menschen im direkten Sperrgebiet, also unmittelbar an der Grenze, oder Kilometer weit weg davon gewohnt haben. Für das Leben der Menschen damals und damit unweigerlich auch für ihre Einstellung heute. Wie schon in Steimke und Böckwitz (Altmark) wird dieser Gedanke auf meiner heutigen Tour in Niedersachsen noch einmal bestätigt.
Auch Heinrich-Wilhelm Serger stimmt zu. Unsere Begegnung ist ein Produkt meines langsam bröckelnden Willens. Von Bahrdorf bis Querenhorst fahre ich mit dem Bus. Damit erspare ich meinen Füßen acht Kilometer Weg. Busfahrer Serger versorgt mich nicht nur mit Tipps für meine Route, Weg, sondern auch mit interessanten Gedanken. Er ist 150 Meter vom Zaun in der Waldmühle, einer ehemaligen Wassermühle, aufgewachsen. Seit 1531 ist die im Familienbesitz. „Abends benötigte ich kein Licht, das hat der Scheinwerfer der NVA-Grenztruppen erledigt“, sagt er. Die Familienhunde fielen dem Minenfeld zum Opfer.
Der 59-Jährige war 20 Jahre im Außendienst für eine Firma tätig. „Wenn wir mit unserem West-Kennzeichen in die neuen Bundesländer gefahren sind, haben wir oft festgestellt, dass wir auch hätten zu Hause bleiben können.“ Da hätte schon die Herkunft ausgereicht, um Verhandlungen von vornherein platzen zu lassen. Serger kann die Menschen im Osten, die sich betrogen fühlen, verstehen. Nur deshalb antwortet er mit einem klaren „Nein“ auf die Frage, ob 30 Jahre Mauerfall auch eine Deutsche Einheit in den Köpfen entstanden ist. Empathie statt Überheblichkeit.
In Querenhorst treffe ich Tankstellen-Besitzer Sebastian-Paul Wißner, der in Magdeburg geboren ist und in Helmstedt lebt. „Ost- und Westdenken gibt es schon noch, aber es ist nicht mehr so negativ belastet“, sagt er. Mit 18 Jahren zog er von Magdeburg nach Frankfurt am Main. So richtig hat er den Osten, seine Heimat, nie verstanden. „Ich bin nach Paris gereist, da wurde ich von Freunden in der Heimat gefragt: Warum?“ Wißner formt mit seinen Händen zwei Scheuklappen nahe der Schläfen. „Das haben viele nicht verstanden. Einige sind nicht rausgekommen.“ Während ich die zwölf Kilometer nach Helmstedt wandere, lasse ich seine Worte nochmal im inneren Film vor mir ablaufen. Ich verstehe, was er sagen will, aber diese Sichtweise ist mir zu eindimensional. Immerhin war er 18 Jahre jung, die Grenze offen, seine Perspektive war eine andere als die Tausender Familien, die nicht einfach alles stehen und liegen lassen konnten. Wieder fällt mir gedanklich dieses Generationending vor die Füße. Darauf habe ich bisher noch keine Antworten gefunden. Aber zum Glück habe ich ja noch zwei Tage.
Alle Eindrücke während der Grenzwanderung teilt unsere Autorin auch auf unserem Blog mit.