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Anschlag Halle im Ausnahmezustand

Die Innenstadt von Halle ist am Mittwoch im Ausnahmezustand. Spezialeinheiten suchen in Halle und Umgebung nach Tätern.

09.10.2019, 18:30

Halle l Kevin Breitenbauch aus Halle steckt der Schock noch in den Gliedern. Er wurde Augenzeuge der Schießerei von einem Dönerimbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße. Er sagt: „Der Typ (gemeint ist der Täter) kam aus dem Dönerladen, stieg in sein Auto und wollte losfahren. Da kam ein Polizeiauto von vorne und schnitt ihm den Weg ab. Er stieg aus, gab Schüsse ab und lief um sein Auto. Er wurde offenbar angeschossen, zog sich in sein Auto und fuhr weg.“

Der 29-Jährige beschreibt den Mann als Soldaten, dunkel gekleidet, mit einer Schussweste und einem Stahlhelm. Der Mann nutzte offenbar eine Art Jagdgewehr. „Der hat erstaunlicherweise sehr ruhig reagiert“, sagt der Zeuge. Das habe alles sehr professionell ausgesehen.

Ein anderer Augenzeuge berichtet dem TV-Sender NTV: „Ich wollte einen Döner kaufen, sah von drinnen durch das Schaufenster einen militant gekleideten Mann mit Helm, Maske und Tarnjacke heranstürmen. Er hatte so etwas wie eine Handgranate dabei. Die anderen Kunden liefen weg. Es gab einen Schuss, der Mann im Laden neben mir sackte zusammen. Ich versteckte mich auf der Toilette und schrieb noch meiner Familie, dass ich sie liebe. Später holte mich die Polizei aus der Toilette.“

Im Laufe des Nachmittags werden Spezialeinsatzkräfte aus ganz Deutschland zusammengezogen. Auch die GSG 9 vom Bund ist dabei. Zwischenzeitlich ist von acht Tatorten in der Stadt die Rede. Über den Katastrophenwarndienst „Katwarn“ heißt es: „Schusswaffengebrauch im Stadtgebiet. Gebäude und Wohnungen nicht verlassen. Von Fenstern und Türen fern bleiben.“

Der Tatort in der Humboldt­straße ist ohnehin weiträumig abgesperrt. Ricardo Piotraschka ist auf dem Weg von der Arbeit und versucht, nach Hause zu kommen. Er wohnt fast gegenüber dem Tatort in der Humboldtstraße. Ein Polizist empfiehlt dem Holztechniker, sich schon mal eine Unterkunft bei Freunden zu besorgen. „Das kann noch sehr lang dauern“, sagt der Polizist. Piotraschka schaut fassungslos. „Sonst passieren dieses Dinge immer weit entfernt, jetzt plötzlich hier“, sagt er und legt die Stirn in Falten.

Nur wenige Meter vom Tatort hat René Duhre sein Fri­seurgeschäft in der Goethestraße, Ecke Humboldtstraße. Am späten Nachmittag ist auch er noch immer konsterniert. Ob er nach Hause kommt, weiß er noch nicht. Er wohnt im abgesperrten Areal. Er bediente einen Kunden, als es passierte. „Ich habe um kurz nach zwölf einen lauten Knall gehört“, erzählt er der Volksstimme. Durchs Fenster sieht er einen dunkel gekleideten Mann, der auf etwas eintritt. Dann Qualm, Funken. Dass er in die Synagoge gelangen wollte, erfährt der Friseur erst später.

Jetzt sitzt in seinem Salon auch die schwedische Journalistin Lina Lund, die unter Hochdruck einen Artikel für die schwedische Zeitung „Dagens Nyheter“ verfasst. Sie arbeitet normalerweise als Korrespondentin in Berlin. Ach sie findet die Vorfälle schockierend. „In Schweden läuft das auch gerade überall als Top-Story“, sagt sie.

Ines Kellner (49) steht nur 50 Meter von ihrer Wohnung in der Schillerstraße entfernt – und darf nicht in ihre Wohnung. Der Anschlagsort ist ebenfalls nur wenige hundert Meter entfernt. „Ich werde wohl bei Bekannten unterkommen, wenn das noch länger dauert“, sagt sie. „Zittrig“ fühle sie sich. Noch immer.

Obwohl der Vorfall vor der Synagoge schon mehr als fünf Stunden her ist. Das Paulusviertel sei eigentlich ein grünes, ein Friedensviertel mit netter Nachbarschaft, sagt sie. Seit sechs Jahren wohnt Ines Keller hier. Dass so etwas vor der Haustür passieren könnte, daran hätte sie nie und nimmer geglaubt.

Weder Anwohner noch Journalisten können am späten Nachmittag die Straßen rund um den Tatort an der Synagoge in der Humboldtstraße passieren. Die Polizei errichtet an allen Zufahrtstraßen im Paulusviertel Sperren. Im Umkreis des Tatorts versperren diverse Schutzzäune die Sicht. Noch immer kreisen vereinzelt Helikopter über dem Viertel, das Polizeiaufgebot ist enorm. Anwohner werden freundlich, aber bestimmt informiert.

Auch an der Schillerstraße unweit der Synagoge warten zwei Männer darauf, in ihre Wohnung zurückzukehren. Ihre Namen wollen sie besser nicht in der Zeitung lesen. Ihr Hund harre nun schon seit Stunden allein aus, sagen sie. „Man dachte immer, Halle sei ein verschlafenes Städtchen“, sagt einer von ihnen. „Was sollen denn die Landsberger sagen?“, sagt der andere. Auch in Landsberg, einige Kilometer von Halle entfernt, hatte es Schüsse gegeben. Beide kennen die Synagoge in der Humboldtstraße, haben das Gebäude auch schon für eine Veranstaltung besucht. „Es ist einfach nicht zu glauben“, sagt einer der Männer.

Es ist eine Ungewissheit, mit der die Hallenser in den Abend gehen. Die „Kat-Warnung“ auf dem Smartphone wird erst gegen 19 Uhr aufgehoben.