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Mario Kasten hat Sprachstörung mithilfe seiner Familie im Griff / In Sachsen-Anhalt gibt es mehr als 4000 Betroffene. Von Elisa Sowieja Aphasie: Wenn einem die Worte fehlen

27.11.2012, 01:24

Mario Kasten fehlen manchmal die richtigen Worte. Nicht etwa, weil es ihm an Feingefühl oder Redegewandtheit mangelt. Der Tarthuner (Salzlandkreis) lebt mit einer Sprachstörung namens Aphasie. Doch darunter leiden lässt er weder seinen Beruf, noch seinen Humor.

Tarthun/Magdeburg l "Helfen Sie mir mal! Dieser Vogel, groß, rote Füße, gibt\'s auch hier in Tarthun." Mario Kasten flattert fröhlich mit seinen Armen. "Storch?" - "Genau!" Ein Gespräch mit diesem Mann erinnert stellenweise an "Tabu" - jenes Ratespiel, bei dem man seinen Mitspielern munter Wörter erklärt. Dabei ist das hier kein Spiel. Der 39-Jährige erklärt gerade, wie er mit seiner Krankheit umgeht. Er leidet an Aphasie, einer Störung der Sprachverarbeitung.

"Die Krankheit hat viele Gesichter", erklärt Katrin Milkun. Sie ist die Sprachtherapeutin von Mario Kasten und Vorsitzende des Landesverbandes für die Rehabilitation der Aphasiker in Sachsen-Anhalt. Bei dem Tarthuner äußert sich die Störung so, dass ihm immer wieder bestimmte Wörter nicht einfallen. "Umso abstrakter und komplexer, desto mehr Schwierigkeiten hat er", sagt die Expertin.

"Ich hatte Durst. Doch vor meiner Frau bekam ich immer nur heraus: Ich möchte etwas..."

In Sachsen-Anhalt sind 4000 Fälle von Aphasie bekannt. Milkun: "Die Dunkelziffer liegt aber viel höher. Denn nicht jeder Betroffene nimmt eine Therapie in Anspruch, und nicht immer verschreibt der Arzt solche Behandlung." Am häufigsten, berichtet sie weiter, trete die Sprachstörung infolge eines Schlaganfalls auf. "Hirntumore oder Schädel-Hirn-Traumata zum Beispiel können auch Auslöser sein."

Mario Kasten erlitt seine Aphasie infolge einer Hirnblutung. Seine Miene wird ernster, als er sich zurückerinnert: "Ich habe mit einem Bohr..." - es folgt ein kräftiges "Ditt-Ditt-Ditt" als Aufforderung zum Mithelfen - "Genau, mit einem Bohrhammer gearbeitet. Plötzlich hatte ich Kopfschmerzen, deshalb bin ich ins Bett gegangen", erzählt er weiter. "Als ich aufwachte, hatte ich Durst. Doch vor meiner Frau bekam ich immer nur heraus: "Ich möchte etwas..."

Mit einem Rettungshubschrauber wurde der Tarthuner sofort ins Magdeburger Universitätsklinikum geflogen. Dort lag er zwei Wochen lang im künstlichen Koma. Danach musste er das Sprechen quasi neu erlernen. Tagelang übte er einen simplen Satz wie "Guten Tag."

Kaum zu glauben ist seine Geschichte, wenn man heute vor ihm sitzt. Nicht nur, dass er selten nach Worten sucht. Mario Kasten arbeitet sogar in einem Beruf, in dem Sprache eine zentrale Rolle spielt: Er ist Vermögensberater. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, erzählt er: "Ich habe meinen Kunden und Geschäftspartnern einfach gesagt, dass ich sprachbehindert bin, aber geistig noch völlig dabei. Und dass sie bitte nachfragen sollen, wenn sie etwas nicht verstehen."

"Statt ¿Darlehen\' sage ich meinem Kunden einfach: ¿Wir brauchen Geld.\'"

Dass es ihm jetzt schwerer als früher fällt, sich über den Arbeitstag hinweg zu konzentrieren, kompensiert er mit ein paar Nickerchen zwischendurch. Und Kundengespräche meistert der 39-Jährige, indem er Umschreibungen benutzt. "Statt ¿Darlehen\' sage ich einfach: Wir brauchen Geld", erklärt er und fügt mit einem breiten Grinsen hinzu: "Außerdem interessieren Fachbegriffe doch eh die wenigsten."

Genau diese Methode übt Katrin Milkun mit ihren Patienten immer und immer wieder. "Bei der Wortsuche gehen Aphasiker im übertragenen Sinne an das richtige Regal, finden aber nicht den korrekten Gegenstand, sprich den passenden Begriff." Der "Schutthaufen" - im Falle von Mario Kasten die Folge seiner Hirnblutung - sei einfach zu groß. "Deshalb üben wir, Oberbegriffe zu nutzen, Größe, Material und Farbe von Gegenständen zu nennen."

"Meine Frau kennt mich seit mehr als 20 Jahren. Bei ihr brauche ich keine Sprache."

Auch für das Kurzzeitgedächtnis hat die Sprachtherapeutin Übungen in petto. "Wenn ich einem Aphasiker eine Geschichte erzähle, in der drei Tiere vorkommen, hat er meist Probleme, sich danach an die Tierarten zu erinnern", erklärt sie. Auch hier macht Übung den Alltag leichter.

Mario Kasten schreibt alle dieser Übungen sorgfältig in einem schwarzen A4-Heft mit. Stolz blättert er es durch. "Ich kann alles lernen, wenn ich will", erzählt er dabei voller Elan. Der 39-Jährige hat sich sogar vorgenommen, bald ein Buch über seine Krankheit zu schreiben - Arbeitstitel: "Hammerhart".

Doch ganz allein, sagt der Aphasiker, wäre er nicht dort, wo er heute ist: "Das habe ich auch meiner Frau zu verdanken." Damit meint er viel mehr, als dass seine Doreen in der Familie die Autofahrer-Rolle übernommen hat. "Sie kennt mich seit mehr als 20 Jahren. Bei ihr brauche ich keine Sprache."

Mit der Kraft, die er aus ihr und den beiden Kindern Arno und Klara schöpft, ist sich der Tarthuner sicher: "Irgendwann komme ich auch von allein auf den Namen von diesem Vogel!"