Stendaler Wahlbetrug Auf Jubel folgt die Krise
Ein außerordentlich hohes Briefwahl-Ergebnis eines CDU-Kandidaten sorgt seit Sommer in Stendal für Aufsehen und enthüllt einen kapitalen
Verwaltungsfehler. Inzwischen steht fest, dass etliche Briefwahl-Vollmachten gefälscht waren. Was passiert ist, liefert Stoff
für einen Polit-Krimi, der am heutigen Freitag auch den Landtag
beschäftigen wird.
Stendal l Blasmusik, Freibier, kämpferische Töne: Kurz nach dem Karneval hat die Stendaler CDU zu ihrem traditionellen Politischen Aschermittwoch geladen. Innenminister Holger Stahlknecht bietet seinen Parteifreunden dazu deftige Kost vom Rednerpult.
Da ist die CDU-Welt in der größten Stadt der Altmark noch in Ordnung.
Seitenhiebe auf die Linke ("gehäutete SED"), die FDP ("die sind weg"), aber auch gegen die Wankelmütigkeit von CSU-Chef Seehofer ("Drehhofer"). Dafür gibt es reichlich Beifall im Festsaal des traditionsreichen "Schwarzen Adlers". Euphorisch bedankt sich Stahlknecht bei Gastgeber Wolfgang Kühnel. Der Innenminister bezeichnet den CDU-Kreischef als "Netzwerker", als "Paten von Stendal".
"Patenkinder habe ich auch", entgegnet der 60-Jährige nur.
Wolfgang Kühnel ist seit 1990 Kreis-Vorsitzender der Stendaler CDU. Politisch hatte er ein besonderes Patenkind: Holger Gebhardt. Der knapp 20 Jahre jüngere Parteifreund war im Nebenjob als Sekretär der Kreistagsfraktion Kühnels rechte Hand, er pflegte die regionalen Internetauftritte der Partei, ging in der Kreisgeschäftsstelle ein und aus. Ein "Mädchen für alles", ein "Kofferträger", ein "guter Geist", hieß es über ihn.
Bis zum 5. November. Dem schwarzen Tag für die Stendaler CDU. Sechs Polizeibeamte durchkämmen an diesem Vormittag die Büroräume der CDU. Die Vorwürfe wiegen schwer: Die Stadtrats- und Kreistagswahl vom 25. Mai sind manipuliert worden. Nach Volksstimme-Informationen sollen die Vollmachten für mehr als 50 Briefwahlanträge gefälscht worden sein.
Am 25. Mai herrschte noch Jubelstimmung bei der Stendaler CDU. Im Norden des Landes fährt sie ihr bestes Ergebnis ein: 41,8 Prozent für den Kreistag, 40,7 Prozent bei der Stadtratswahl - fast fünf Prozentpunkte mehr als 2009.
Über diesem Wahlergebnis liegt sehr schnell ein Schatten. Doch die ganze Dimension wird erst nach jenem November-Mittwoch deutlich. Besonders einer gerät ins Visier der Ermittler: Holger Gebhardt.
Der 41-Jährige, im Stendaler Stadtrat eher ein Hinterbänkler, kommt bei der Wahl mit 837 Stimmen auf den vierten Platz der CDU.
Erst Anfang Juni liegt das Ergebnis in allen Einzelheiten vor und birgt eine Überraschung. Manche sagen auch Unmöglichkeit dazu: 689 Stimmen holt Gebhardt bei der Briefwahl - mehr als elf Prozent aller per Brief abgegebenen Stimmen. In den 37 Wahllokalen, die mehr als 80 Prozent der Stendaler für ihren Gang zur Wahl aufgesucht haben, kommt er dagegen auf vergleichsweise äußerst magere 148 von rund 29000 Stimmen.
Wie das passierte und was danach geschah, dürfte als einmaliges Lehrstück in die Geschichte des Landes eingehen und gilt auch in der Bundesrepublik als in dieser Dimension bislang unerreicht.
Alles sei korrekt gelaufen, beteuert zunächst Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt (CDU) am 3. Juni vor dem Wahlausschuss. Drei Wochen später muss er eine Panne im Rathaus einräumen. Mitarbeiter hatten nicht beachtet, dass ein Wahlberechtigter nur bis zu vier Vollmachten einreichen darf. In Stendal hatten jedoch zwölf Bevollmächtigte insgesamt 189 Unterlagen für die Stadtrats- und die Kreistagswahl abgeholt - in einem Fall waren es mehr als 30. Diese Panne passierte landesweit nur in Stendal.
Die örtlichen Christdemokraten versuchen jetzt zu retten, was am Ende nicht zu retten ist. Vor dem Kreistag betont Landrat Carsten Wulfänger (CDU) am 3. Juli, dass "eine Verfälschung des Wählerwillens nicht erkennbar" sei. Dafür probierte er sich sogar als Graphologe und prüfte die Unterschriften: "Wir saßen zu viert. Einige sagten, es stimmt überein, andere meinten, es stimmt nicht überein. Man konnte Zweifel haben. Aber es gab auch welche in der Runde, die haben gesagt, das ist die normale Tendenz", fasst das Protokoll des Kreistags die Ergebnisse einer besonderen Recherche zusammen.
Wolfgang Kühnel bricht in dieser Kreistags-Sitzung eine Lanze für die Bevollmächtigten: "Man kann sie nicht unter Verdacht stellen, dass sie bewusst das Gesetz gebrochen haben."
Was Kühnel an dem Tag verschweigt und auch Wulfänger zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst haben will: Der CDU-Kreischef ist selber einer der zwölf Bevollmächtigten.
"Hätten wir das gewusst, wäre die Abstimmung anders ausgegangen", sagen heute unisono mehrere Kreistagsmitglieder. Damals reichten die Gegenstimmen nicht aus. Die Wahl wurde bestätigt, zumal Holger Gebhardt für den Kreistag nicht kandidiert hatte.
Vier Tage später im Stadtrat ergibt sich ein anderes Bild: Nur CDU und Grüne wollen hier das Briefwahlergebnis anerkennen. Linke, SPD, FDP und Piraten haben jedoch die Mehrheit und stimmen für die Wiederholung der Briefwahl. Nicht nur das: Sie wollen in einem zeitweiligen Ausschuss klären, wie es zu der Panne kommen konnte. Dessen Einsetzung haben Oberbürgermeister und Kommunalaufsicht jedoch beim Landkreis aus formalen Gründen bis heute blockiert.
Insbesondere CDU-Fraktionschef Hardy Peter Güssau wehrt sich in der Debatte vehement gegen eine Wiederholung der Briefwahl und einen Sonderausschuss. Der erfahrene Politiker spricht von "Polit-Mobbing" und prophezeit: "Wenn Sie eine neue Briefwahl beschließen, dann bekommt Herr Gebhardt ein noch höheres Ergebnis."
Stadtwahlleiter Kleefeldt vollzieht in dieser Sitzung am 7. Juli eine Kehrtwende. Er plädiert entgegen seiner ersten Empfehlung dafür, die Wahl für gültig zu erklären.
Damit stellten sich beide Wahlleiter gegen eine Empfehlung des Landeswahlleiters. Dessen Büro hatte aufgezeigt, dass eine Teil-Wiederholung dann angebracht sei, wenn es durch die Verstöße bei der Wahl theoretisch zu einem anderen Kräfteverhältnis oder auch nur zu einer anderen personellen Zusammensetzung kommen könnte.
Das wäre beim Stadtrat wie beim Kreistag der Fall gewesen.
Zu diesem Zeitpunkt bekommt der noch größere Skandal erste Konturen: Florian M. hatte im Rathaus am 3. Juli eidesstattlich erklärt, dass seine Unterschrift unter dem Briefwahlantrag gefälscht worden sei. Die Stadt stellt daraufhin Strafanzeige wegen Urkundenfälschung und Wahlbetrugs - gegen Unbekannt.
Der junge Mann gehört zu den zehn der 189 "Briefwähler" per Vollmacht, die am Wahltag ins Wahllokal gegangen sind, um zu wählen. Dort stellten die Wahlhelfer fest, dass aber bereits Briefwahlunterlagen beantragt wurden.
Was dann passierte, erzählte Christine T. vor einigen Tagen der Volksstimme. Ihr erging es wie Florian M. "Es wurde eine Viertelstunde telefoniert. Dann konnte ich doch wählen." "Ihre" Briefwahlunterlagen wurden aussortiert.
Noch im Juli erhält die Friseuse eine Vorladung bei der Polizei. "Auf den ersten Blick konnte man sehen, dass meine Unterschrift gefälscht war. Ich schreibe ganz anders."
Vor den Augen des Polizisten darf sie auch den Wahlbrief mit den Stimmzetteln öffnen: "Ganz viele Stimmen für die CDU. So wähle ich aber nie."
Christine T. kann von ihrer Arbeit alleine nicht leben. Als sogenannte Aufstockerin ist sie daher beim Jobcenter registriert. Dort arbeitete damals auch Holger Gebhardt - abgeordnet von der Stadt. Die Spitze des von Oberbürgermeister Klaus Schmotz (CDU) geführten Rathauses hatte ihn Ende 2011 eingestellt - ohne interne oder externe Ausschreibung, die sonst überwiegend üblich ist. Inzwischen liegt deswegen eine Strafanzeige gegen den Oberbürgermeister wegen Amtsmissbrauchs und Vorteilsgewährung im Amt vor.
Zahlreiche der 189 Wahlberechtigten, für die die zwölf Frauen und Männer im Rathaus Unterlagen abgeholt haben, werden in den Wochen danach von der Polizei verhört. Bei etlichen von ihnen gibt es ebenfalls eine Verbindung zum Jobcenter.
Anfang November haben die Strafermittler so viele Puzzleteile zusammen, dass sie bei Holger Gebhardt und seinen Helfershelfern zuschlagen. Man ermittle derzeit gegen mehr als zehn Beschuldigte, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Darunter auch gegen Wolfgang Kühnel und eine Mitarbeiterin der CDU-Geschäftsstelle.
Diese betonen jedoch, nur Boten für ihren Parteifreund gewesen zu sein. Dieser habe stapelweise Vollmachten in das CDU-Büro gebracht, die dann verteilt wurden. Die abgeholten Wahlbriefe habe Holger Gebhardt dann wieder in Empfang genommen.
Dass es in vielen Fällen nicht die übliche Wahlbenachrichtigungskarte, sondern ein eigens entworfenes Formblatt mit einer Vollmacht war, hat offenbar weder seine Helfer noch das Wahlbüro im Rathaus stutzig gemacht. Die hätten ihre Karte halt verlegt, habe Gebhardts Erklärung gelautet. Man habe ihm da vertraut.
Mit diesem Vertrauen ist es bei der CDU vorbei, nachdem die Polizeibeamten bei ihrer 90-minütigen Aktion Festplatten, Laptops, Mobilfunkgeräte und Aktenordner in den beiden Dienst-Bullys verstaut hatten.
Es dauert danach nur etwas mehr als 24 Stunden, bis Holger Gebhardt drei DIN-A-4-Blätter - aufgesetzt in der CDU-Geschäftsstelle - vorliegen, die er dann auch unterschreibt: Eine Austrittserklärung aus der CDU, die Kündigung seines Nebenjobs als Sekretär der Kreistagsfraktion und der Verzicht auf sein Stadtrats-Mandat.
Das büßt er drei Tage später ohnehin ein, als er bei der Wiederholungswahl statt der 689 nur noch 97 Stimmen erhält. Nicht nur politisch hat Holger Gebhardt alles verloren. Auch die Stadt hat ihrem Mitarbeiter umgehend gekündigt. Fristlos.
In der Landes-CDU ist man alarmiert. Nach der Dessauer Fördermittel-Affäre und den Querelen um die Wolmirstedter Jahnsporthalle ist dies die dritte Affäre, mit der sich die Partei herumschlagen muss.
In einer "großen Familie" mit 7300 Mitgliedern "kann es auch mal vorkommen, dass es ein schwarzes Schaf gibt", sagt Landesvorsitzender Thomas Webel im November auf dem Landesparteitag.
Wenige Tage später gilt bei Innenminister Holger Stahlknecht Alarmstufe Rot. Bei der Aufarbeitung der Affäre stellt er fest, dass der stellvertretende Leiter des in der Sache ermittelnden Stendaler Polizeireviers CDU-Kreistags- und Kreisvorstandsmitglied ist. Stahlknecht veranlasst umgehend, dass die Ermittlungen von der Polizeidirektion in Magdeburg weitergeführt werden.
Ein anderer ranghoher CDU-Landespolitiker fasst derweil im kleinen Kreis die Situation volkstümlich zusammen: "Was ist denn das für eine Scheiße da bei Euch in Stendal."
Bei der Wiederholung der Briefwahl am 9. November büßt nicht nur Holger Gebhardt Stimmen ein. Die CDU fällt hier um neun Prozentpunkte. Nur gut jeder Dritte der Briefwähler vom Mai machte überhaupt die drei Kreuze.
Da auch die Nachwahl von den Folgen der Wahlfälschung überschattet wurde, muss am 31. Mai der Stadtrat komplett neu gewählt werden. Der CDU-Stadtvorstand spricht von "Vorgängen, die ein Einzelner verübt haben soll" und bittet: "Neustart muss möglich sein."
Kernige Sprüche machen derzeit eher die anderen Parteien. Der langjährige Stendaler SPD-Landtagsabgeordnete Tilman Tögel etwa rät der CDU, sie solle sich "umbenennen in Camorra von der Uchte" - dies ist ein kleiner Fluss, der sich durch Stendal schlängelt.
Die Gräben zwischen den Stendaler CDU-Spitzen und den anderen Parteien sind derzeit tief. Nicht nur die offenkundig groß angelegte Wahlfälschung steht im Raum. Es herrscht ein großes Misstrauen, weil die genauen Umstände und Zusammenhänge nur scheibchenweise deutlich werden.