Stendal l Nur 148 Stimmen in den 30 Wahllokalen, aber 689 bei der Briefwahl - ein Anteil von exorbitanten 82,3 Prozent. Als dieses Wahlergebnis des damaligen CDU-Stadtrates Holger Gebhardt am 3. Juni 2014 zehn Tage nach der Wahl in der Lokalredaktion der Stendaler Volksstimme bekannt wird, wirft dies mehr als nur eine Frage auf.
Holger Gebhardt urlaubt zu dieser Zeit in Italien. Er antwortet per Mail. Etwa auf die Frage, wie er sich dieses Ergebnis erklärt: "Ich habe aktiv für mich seit Wochen geworben, viel telefoniert und gesprochen, habe Menschen ganz direkt angesprochen."
Eine der weitere der Fragen lautet: "Für die Briefwahl gibt es Grundsätze (z.B. bei Vollmachten). Können Sie versichern, dass bei Ihrem Ergebnis von Ihnen (und/oder ggf. weiteren Ihrer aktiven Unterstützer) dagegen nicht verstoßen worden ist?"
Gebhardt antwortet: "Das kann ich eindeutig bejahen."
Dass diese Antworten gar nicht von ihm, sondern vom Stendaler CDU-Vorsitzenden Hardy Peter Güssau sind, wussten außer Gebhardt und Güssau bislang nur die Strafermittler.
Als sie nach Hausdurchsuchungen bei Gebhardt und in der Stendaler CDU-Zentrale die Maildateien auswerten, entdecken Sie, dass an diesem 3. Juni zwischen der Anfrage der Volksstimme um 15.45 Uhr und der Rückantwort um 17.08 Uhr Güssau für Gebhardt eine Erwiderung in der Ich-Form formuliert und ihm gesendet hatte.
Das wift gleich mehrere Fragen auf: War es nur ein Freundschaftsdienst? Ahnte Güssau nicht, wie Gebhardt vorgegangen war? Wusste er nicht, dass insgesamt 69 Vollmachten von seinen drei Büronachbarn der CDU-Kreisgeschäftsstelle im Rathaus eingereicht worden waren? Kannte er nicht die Regelung, dass nur vier je Person erlaubt waren?
Möglicherweise war das so.
Zwei Wochen später ist zumindest dem engeren Zirkel der Stendaler CDU-Spitze jedoch bekannt, dass es im Rathaus einen kapitalen Verwaltungsfehler gab und zu viele Vollmachten ausgereicht worden waren. Eben auch an die drei CDU-Vertreter. Mails belegen, dass Hardy Peter Güssau aktiv versucht, eine Wahlwiederholung zu verhindern.
Am 24. Juni fragt auch die Altmark-Zeitung bei Holger Gebhardt nach, ob bei seinen Stimmen alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Es sind ähnliche Fragen wie zuvor.
Der Mailverkehr zwischen Hardy Peter Güssau, Holger Gebhardt und Stendals CDU-Kreischef Wolfgang Kühnel belegt, was daraufhin passiert: Güssau empfiehlt, die für die Volksstimme entworfene Erklärung erneut zu verwenden - "je kürzer, je besser". Mehr noch: Er schreibt, Gebhardt solle ihm den "Text, den wir verabredet haben" senden und verlangt, dass er die Mail vor dem Absenden an die Zeitung zu lesen bekommt.
Gebhardt schickt sie am Morgen des 25. Juni. Güssau und Kühnel bestätigen den Entwurf mit "ok".
Und so schreibt das Blatt am 28. Juni, dass Gebhardt auf Anfrage erklärt, "dass er nicht gegen die Grundsätze der Briefwahl verstoßen habe". Nicht nur Gebhardt, sondern auch Güssau und Kühnel wussten damals, dass dies glattweg gelogen war.
Es ist nicht die einzige pikante Nachricht aus den elektronischen Postfächern. Weitere belegen, wie die Stendaler CDU-Spitze auch in die Versuche eingebunden war, die sich abzeichnende Aufdeckung der Wahlfälschung zu verhindern.
Spätestens nachdem Florian M. am 3. Juli 2014 im Stendaler Rathaus eine eidesstattliche Erklärung abgegeben hatte, dass seine Vollmacht gefälscht sei und er den dort aufgeführten Bevollmächtigten Wolfgang M. nicht kenne, gerät Holger Gebhardt endgültig in Erklärungsnot.
Antje M. schickt im Namen ihres damaligen Ehemannes Wolfgang M. am 5. Juli um 8.30 Uhr eine Mail an Stendals Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt und Oberbürgermeister Klaus Schmotz (beide CDU). Doch geschrieben hat sie den Entwurf nicht. Den Text fanden die Ermittler vielmehr auf Gebhardts Festplatte - erstellt am 4. Juli um 16.58 Uhr. Und auch Güssau erhält das Dokument noch vor seinen beiden Parteifreunden im Rathaus - nur kurze Zeit nach der Fertigstellung schickt es ihm Gebhardt um 18.59 Uhr.
Der Inhalt ist eine wortreiche Erklärung, die eine Verwechselung mit einem Namensvetter suggeriert, um so den Fälschungsverdacht abzuwenden.
Der Versuch scheitert. Kleefeldt durchschaut das falsche Spiel und stellt wenige Tage später Strafanzeige. Diese löst eine Befragung von mehr als 200 Zeugen und mehr als ein halbes Dutzend Hausdurchsuchungen aus. Die Strafakte umfasst inzwischen rund 2900 Seiten - darunter ist auch der brisante Mailverkehr.
Eine Beschuldigte im Stendaler Wahlskandal arbeitete bis vor kurzem noch für den Stendaler CDU-Landtagsabgeordneten Hardy Peter Güssau - Holger Gebhardts Lebensgefährtin Conny B. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie, weil sie ihren Lebensgefährten bei den Manipulationen unterstützt haben soll.
Conny B. gehörte nicht nur zu den zwölf Bevollmächtigten, die für Gebhardt bei der Stadt Briefwahlunterlagen abholten. Die Ermittler stellten auch eine von ihr erstellte Datei sicher, in der 173 Namen, Adressen und Geburtsdaten erfasst waren. Sie soll von Gebhardt für die Fälschung von Vollmachten verwendet worden sein.
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe verlor Conny B. ihre Anstellung bei der Stadt Stendal. Güssau behielt ihre Beschäftigung auf geringfügiger Basis jedoch bei.
Die Ermittlungsbeamten stießen bei einer zweiten Durchsuchung der gemeinsamen Wohnung von Gebhardt und Conny B. im Dezember 2014 auf einen Computer des Landtagsabgeordneten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Stendaler CDU erklärt, sämtliche Kontakte zu Gebhardt abgebrochen zu haben. Er selbst schilderte den Beamten, dass er Güssau und die CDU "weiterhin unterstützt".
In der neuen Wahlperiode verlängerte der heutige Landtagspräsident den Vertrag mit Conny B. nicht. Im Karriereportal Xing gab sie jüngst an: "Mai 2011 - Juni 2016 Mitarbeiterin Abgeordneter Hardy Peter Güssau MdL (geringfügige Beschäftigung)."