Insekten Da krabbelts in der Kiste
Helmut Pöschel rettete den Würchwitzer Milbenkäse über DDR-Zeiten.
Würchwitz l Helmut Pöschel ist ein Unikum. Wer ihn kennengelernt hat, wird diese Bezeichnung akzeptieren, ohne Wenn und Aber. Der 74-Jährige bewohnt ein uraltes Häuschen am Ortsrand von Würchwitz, dem Dörfchen mit gut 600 Seelen im Dreiländereck von Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Der Landstrich zeigt sich mit sanften Hügeln fast malerisch, einst trug er den Beinamen Osterland. Durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses kam Würchwitz mit weiteren sechs Gemeinden 1815 zu Preußen.
Eine ganz besondere Tradition der Region hat es Pöschel angetan. Der Mann, den alle dort mit dem Spitznamen "Humus" rufen, trug nicht unwesentlich zum Erhalt der Herstellung einer ungewöhnlichen Spezialität bei: dem Milbenkäse, mundartlich Mellnkase genannt. Ups, jetzt läuft empfindliche Menschen ein Schauer über den Rücken. Als Milben in Betten sind die Spinnentierchen verpönt. An die 35.000 Arten sind von ihnen bekannt. Die Altenburger Käsemilben scheinen etwas ganz Besonderes zu sein. "Seit dem Mittelalter helfen sie aus Quark Käse mit seinem besonderen Aroma zu machen, wohl jeder Bauer rund um Altenburg besaß wohl eine Milbenkiste", erzählt der pensionierte Lehrer für Chemie, Biologie und Kunst.
Gerade einmal einen halben Millimeter sind die Winzlinge groß. In der DDR hatte man dafür von offizieller Seite kein Ohr, sah das Aussterben der Tradition eher gelassen. "Aber da spielten gerade die älteren Frauen nicht mit. Im stillen Kämmerlein und für den eigenen Bedarf und den der Nachbarn wurde in kleinen Mengen weiter produziert", sagt Humus und lacht dabei. Sein Interesse daran kam in den 1970er Jahren zum Tragen. Beim Würchwitzer Kleefest wollte er die Spezialität wieder ins öffentliche Licht rücken. Ein paar Jahre ging das gut, "dann gab es Theater". Die Freiräume, die sich mit dem Ende der Planwirtschaft öffneten, nutzte Pöschel. Umtriebig und bekannt wie ein bunter Hund nahm er die Chance war. Allein das von ihm mit Feuereifer gemeinsam mit anderen Enthusiasten betriebene Filmstudio reichte ihm als Beschäftigung nicht aus. Erotische Streifen ebenso wie dokumentarische Filme und eine ganze Reihe von Episoden rund um die Olsenbande entstanden dort mit Laiendarstellern.
Milben wurden seine besten Freunde. Deren Schicksal hat Humus in einen Satz gefasst: „Fressen und gefressen werden, das ist unser Los auf Erden.“ Ja, die Produktionshelfer werden mit verputzt, sorgen durch ihr Zutun für den Geschmack der ursprünglich nüchternen Magerquarks aus Kuh- oder Ziegenmilch. Salz, Kümmel und im Frühjahr auch noch Holunderblüten kommen dazu. Dann dauert es drei bis sechs Monate, bis der bernsteinfarbene Käse verputzt werden kann.
Sein Geschmack erinnert ein wenig an den Harzer Käse, doch der Gaumen spürt viel mehr Würze und eine leichte Bitternote. Die Milben verputzen selbst einen Teil des Quarks, und fermentieren ihn durch ihre Ausscheidungen. Den leichten zitronigen Geschmack erforschten Wissenschaftler der TU Darmstadt. Sie stellten fest, dass sich Käsemilben Feinde mit einem Wehrsekret vom Leibe halten. Und in diesem steckt Neral, eine Komponente des Zitronenöls. Das fruchtige Bouquet hat also nichts mit der Art der Herstellung zu tun, noch sei es im Käse selbst enthalten, war ihre Erkenntnis. Es entsteht nur durchs Schneiden und Zerkauen des Rohstoffs. Damit ist zugleich erwiesen, dass jeder, der den Geschmack vollends auskosten möchte, wohl oder übel die Käsemilben mitessen muss.
Roggenmehl bekommen sie zusätzlich als Futter, damit trotz der Fressgier auch noch Käse für den Menschen übrig bleibt. Von 100 Gramm Ausgangsmaterial bleiben zum Schluss gerade einmal 40 Gramm Käse übrig. Wichtig zudem, die Bedingungen in den alten Munitionskisten, in denen das Riesenvolk lebt, müssen ständig passen. 100 Prozent Luftfeuchtigkeit sind Gesetz. Regelmäßiges Lüften und Drehen der Käsestücke ebenso. Inzwischen kann Pöschel sogar per Smartphone die Herstellung überwachen.
In seinem Haus darf jedermann dessen mehr als einer Millionen Mitarbeiter zuschauen, wie sie das für das Aroma sorgen. Eine kleine Kammer beherbergt nicht nur die Mini-Produktion, sondern zusätzlich ein kleines Museum, das über die Würchwitzer Spezialität aufklärt. Masse soll keineswegs gehandelt werden. Darauf legten Pöschel und sein Partner Christian Schmelzer, promovierender Theologe und Strategieberater, 2006 bei der Gründung der Manufaktur Wert. Der Milbenkäse soll etwas Exklusives bleiben. Und wer von den Besuchern kosten möchte, darf das tun, mancher muss sich erst überwinden, besonders dann, wenn er zuvor im Mikroskop die Spinnentiere noch beobachtet hatte.
In einer Vitrine gibt es zudem interessante Devotionalien zu bestaunen. Helden-Orden en miniature gehören dazu. Sie wurden Würchwitzer Käsemilben 2003 nach einem 200 Tage währenden Ausflug in einem Sojusraumschiff auf die ISS-Station "verliehen".
In der Mitte des Dorfes geht es weitaus opulenter zu. Mit einem Drei-Meter-Standbild aus Carrara-Marmor setzten dessen Einwohner ihren berühmten Mitbürgern 2001 ein Denkmal, geschaffen vom Bildhauer Christian Späte. Sogar eine Mimi, eine Milbenmiliz in Fantasieuniformen, lässt Pöschel bei Bedarf aufmarschieren. Der Mann mit seinem gewinnenden Humor lässt nichts aus.
Ach so, für die Qualität des Würchwitzer Milbenkäses legt er seine Hand ins Feuer. Die wird mehrmals im Jahr von Lebensmittellaboren überwacht. Weder Schimmelpilze noch Salmonellen oder gar andere schädliche Keime wurden jemals in den Proben festgestellt. Also: Guten Appetit!