Grenzgebiet Der Tod lauerte bei Hestedt
Der Mauerfall läutete das Ende des Todesstreifens ein. Bereits vor der Grenzziehung zwischen BRD und DDR starben Menschen auf der Flucht.
Salzwedel l 3. Juni 1946. Die Schwestern Ilse Gaus und Elfriede Rolf (beide Namen geändert) gehen ins Gasthaus Probst in Bergen an der Dumme. Der kleine Ort liegt in der britischen Zone, unmittelbar an der Demarkationslinie zum sowjetisch besetzten Teil Deutschlands.
Die Salzwedlerin Elfriede Rolf war in der Nacht vom 26. zum 27. Mai bei Waddekath über die grüne Grenze gegangen, um ihren Mann zu besuchen, der sich in englischer Kriegsgefangenschaft befindet. Danach war sie nach Oldenburg zur Schwester gefahren. Am 1. Juni waren die beiden Frauen zurück in Richtung Altmark aufgebrochen. Ilse will ihre Eltern in Salzwedel besuchen und bei dieser Gelegenheit den Rest ihrer Aussteuer abholen.
Elfriede Rolf weiß, dass es in Bergen nicht schwer ist, einen ortskundigen Führer zu bekommen. Anlaufpunkt ist das Gasthaus Probst. Hier sammeln sich die kleinen Trupps von höchstens zehn Leuten, die auf das sowjetisches Gebiet wollen.
Die Frauen wenden sich an den Wirt. „Da drüben, der große Schlanke mit den welligen blonden Haaren“, deutet der Mann hinter der Theke mit dem Kopf zu einem Tisch im hinteren Teil des verqualmten Gastraums.
Doch der Grenzführer, den die Schwestern auf Anfang 20 schätzen, lehnt ab: „Wir sind voll für heute Nacht.“ Doch durch ein paar Päckchen Tabak extra lässt er sich erweichen: „Na gut, in zwei Stunden geht es los.“
Kurz vor Mitternacht bringt der Blonde die neun Mann ohne Zwischenfälle nördlich der Reichsstraße 71 bei Darsekau über die Demarkationslinie. Kurz vor Salzwedel kassiert er: 50 Reichsmark pro Person. Studenten bezahlen die Hälfte
Beim Verabschieden sagt Ilse Gaus, dass sie in ein paar Tagen wieder zurück in die britische Zone will. Der junge Mann gibt ihr seine Adresse: Norbert Barnim (Name geändert), Bergen/Dumme, Gasthaus Probst.
Am 11. Juni gehen die Schwestern im Bahnhof Salzwedel zur Gepäckaufbewahrung und geben dort die Koffer und Rucksäcke auf, die Ilse am Abend in den britischen Sektor mitnehmen will. Darin befinden sich unter anderem vier Damastbezüge, vier Meter Vorhangstoff, Tischdecken, vier Krawatten, ein sechsteiliges Silberbesteck, eine goldene Armbanduhr, Kleidung, eine Lebensversicherungspolice und 1500 Reichsmark in Dollar- und Pfundnoten. „Nimm das Geld lieber heraus“, sagt Elfriede. Ilse steckt sich die Scheine in den Büstenhalter. „Da ist das Geld sicherer“, schmunzelt sie verschmitzt.
Die Gepäckstücke bekommen Aufkleber – Restbestände mit rotem Reichsadler und Hakenkreuz. Auf einem Koffer, in dem ein Inlett verstaut ist, klebt der Reichsbahner die Nummer „0899“
Um 18.30 Uhr holen die Frauen die Gepäckstücke ab. 20 Minuten später kommt Barnim zum Hauptbahnhof. Der Grenzführer macht einen sehr nervösen Eindruck. Die Russen seien hinter ihm her, erklärt er seinen Zustand.
Norbert Barnim und Ilse Gaus laufen auf der Reichsstraße 71 in Richtung Chüttlitz. In Brietz kehren sie in der Gastwirtschaft Lüchow ein.
Die Kellnerin schnappt auf, dass das Paar nordwestlich von Brietz bei Dersekau in die Westzone will. „Über den Brietzer Damm geht es doch von hier aus viel schneller“, mischt sie sich ein. „Da kenne ich mich nicht aus“, knurrt Barnim ungehalten.
Als es dunkel ist, brechen sie auf. Gegen 23.30 Uhr verlassen sie an der Chaussee Darsekau-Hestedt die Reichsstraße 71 und gehen noch 250 Meter Richtung Hestedt. Dort befinden sich einige Kartoffelmieten. „Lass uns hier mal einen Moment ausruhen“, sagt der Grenzführer. „Ich will mal sehen, ob russische Posten in der Nähe sind.“
Als Barnim den Weg zurückschaut, sieht er, dass von dort langsam ein Mann kommt. Doch das beunruhigt den 21-Jährigen nicht im Geringsten. Weiß er doch, dass es sein Kumpel Rudolf Hampel (Name geändert) ist, und der gehört zu seinem teuflischen Plan.
Ilse sitzt auf einem Grasflecken knapp zehn Meter neben der Landstraße und 400 Meter vor der Demarkationslinie. Barnim fragt: „Was ist eigentlich in dem schweren Koffer?“ Im selben Moment umklammert er die Frau und hält ihr den Mund zu.
„Koffer“ war das Stichwort für den Dritten im Bunde: Kurt Huse (Name geändert). Der Komplize kommt hinter der Kartoffelmiete hervor und schlägt mit einem dicken Knüppel auf den Kopf des überraschten Opfers. Ilse Gaus sackt zuckend zusammen. Huse bearbeitet die 24-Jährige, bis sie sich nicht mehr regt.
Hampel hat derweil das Gepäck zur Seite gebracht und flüchtet in Richtung Cheine. Nachdem sich Barnim und Huse überzeugt haben, dass Ilse Gaus tot ist, durchsuchen sie die Frau. Sie finden die Geldscheine. Huse steckt sie ein. „Das ist mein Anteil. Den anderen Dreck könnt ihr haben.“ Dann ziehen sie die Leiche unter die Strohabdeckung und schichten Kartoffelkraut darauf.
Am 4. Juli 1946 findet ein Landarbeiter die stark verweste Frauenleiche. Der herbeigerufene Oberwachtmeister Willi Schievelbein vom Polizeiposten Brietz meldet seiner vorgesetzten Dienststelle in Salzwedel: „Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass es sich um eine Grenzgängerin handelt, die beim Anruf des Grenzpostens nicht stehen geblieben ist und deshalb erschossen wurde.“ Doch damit liegt der Landpolizist falsch.
Die Vermisstenanzeige von Elfriede Rolf deutet darauf hin, wer das Opfer sein könnte. Die 26-Jährige identifiziert ihre Schwester. Die Salzwedlerin teilt den Polizisten auch Namen und Adresse des Grenzführers mit.
Knapp zwei Wochen später wendet sich Oberwachtmeister Schievelbein an den Bürgermeister von Bergen/Dumme im britischen Sektor. Er teilt mit, dass Barnim verdächtigt wird, in der sowjetischen Zone einen Raubmord begangen zu haben. „Um Fahndung wird gebeten.“ Es folgt die Personenbeschreibung. Vom Polizeiposten Bergen im Kreis Dannenberg geht das Fahndungsersuchen aus der sowjetischen Zone ans Kriminalpolizeiamt im britischen Sektor in Hamburg. Von dort kommt am 20. August 1946 die Rückmeldung: „Am 13.7.46 wurde in Wittenberge wegen gemeinschaftlichen Diebstahls ein Musiker Norbert Barnim ... erkennungsdienstlich behandelt.“
Die Nachfrage beim Amtsgericht Wittenberge ergibt, dass neben Barnim auch ein gewisser Rudolf Hampel einsitzt.
Aufgrund des Mordverdachts wird der Musiker am 5. Oktober 1946 ins Salzwedler Gerichtsgefängnis gebracht. Er wird Elfriede Rolf gegenübergestellt und diese erkennt ihn sofort wieder. Auch den Koffer und eine Krawatte sowie das Herrenhemd, das Barnim trägt, identifiziert sie.
Der Ex-Matrose der Kriegsmarine räumt den gemeinsamen Grenzübertritt am 7. Juni 1945 ein. Allerdings nur bis zum Gaststättenbesuch in Brietz. Kurz hinter Brietz seien sie auf eine Menschengruppe getroffen, die ebenfalls in die britische Zone gewollt habe. „Die Frau hat sich dann diesem Trupp angeschlossen. Ich bin nach Salzwedel zurück.“
Das Hemd, das als Teil der Aussteuer identifiziert wurde, sei das Geschenk eines ehemaligen Kriegskameraden. Die Aufbewahrungsmarke auf dem Koffer mit der Nummer 0899 erklärte er damit, dass er den Koffer mehrfach am Hauptbahnhof aufgegeben und wieder abgeholt habe. Den Koffer habe er am 26. September 1945 auf der Fahrt von Munsterlager nach Oldenburg mit einem Kriegskameraden gegen einen Rucksack getauscht. Die grüne Krawatte habe er in Oldenburg mit einem Bezugsschein erworben.
Am 17. Oktober 1946 übernimmt die Kriminalpolizeistelle der Provinz Sachsen in Magdeburg den Fall.
Wenige Tage später schildert Barnim den Raubmord und die dazugehörende Vorgeschichte.
Am 23. Januar 1947 beginnt im Stendaler Rathaus der Schwurgerichtsprozess gegen den Grenzmörder. Unter den sieben Zeugen befindet sich auch Barnims Komplize Rudolf Hampel.
Bereits am Nachmittag wird der Angeklagte wegen „Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge“ zum Tode verurteilt. Pflichtverteidiger Richard Kramer legt Revision ein. Doch das Oberlandesgericht in Halle weist den Antrag zurück.
Aufgrund seines „jugendlichen Alters zur Tatzeit“ befürwortet der Generalstaatsanwalt allerdings die Hinrichtung nicht. Er verweist darauf, dass Barnim „zu einer Generation Jugendlicher gehört, die durch den faschistischen Krieg geprägt ist“. Barnim wird zu einer lebenslangen Haftstrafe begnadigt.
13 Jahre später unterschreibt Staatssekretär Opitz im Auftrage vom DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck die zweite Begnadigungsurkunde. Am 24. November 1969 wird der „Grenzmörder von Hestedt“ in den Kreis Quedlinburg entlassen.