Haldensleben l Friedrich Schiller muss beleidigt sein. Seit dem Jahr 1905 hängt der Schriftsteller mit seinem Konterfei am Haldensleber Rathaus. Jahrzehntelang hat man sich seine Worte in der Stadt zu Herzen genommen. „Holder Friede, süße Eintracht, weilet, weilet freundlich über dieser Stadt“, steht auf der Plakette. In den vergangenen eineinhalb Jahren ist dieser Ruf aus Schillers „Lied von der Glocke“ in Haldensleben ungehört verhallt. Im Rathaus der Kreisstadt herrscht kein Frieden mehr. Bürgermeisterin Regina Blenkle (Wählergemeinschaft FUWG) ist vorläufig suspendiert. Der Stadtrat hat ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Blenkle droht die Amtsenthebung.
Noch vor einigen Monaten wäre ein solch chaotischer Zustand in Haldensleben unvorstellbar gewesen. 25 Jahre lang war die Kreisstadt eine Kommune mit Vorbildcharakter in Sachsen-Anhalt. Große Unternehmen wie Otto, Ifa Rotorion oder Euroglas haben in der Börde nach der Wende Erfolgsgeschichten geschrieben. Dann ging Norbert Eichler (CDU), Stadtchef seit 1990, in den Ruhestand. Seit diesem 7. Juli 2015 ist vieles anders in Haldensleben.
Innerhalb weniger Monate hat die neue Bürgermeisterin die Verwaltung nach Gutdünken umgekrempelt. Treue Begleiter versorgte sie mit Posten im Rathaus. Andere Angestellte, die ihr nicht passen, mussten gehen oder wurden versetzt. Blenkle agierte eineinhalb Jahre ohne Rücksicht auf Verluste.
Henning Konrad Otto war der Erste, der die Macht der neuen Stadtchefin im Sommer 2015 zu spüren bekam. Bei der Wahl war Otto, der stellvertretende Bürgermeister und Wunschnachfolger Eichlers, ihr Gegenkandidat. Mit einem Vorsprung von 337 Stimmen landete die 55-Jährige in der Stichwahl vor Otto. Die beiden kennen sich lange. Bis zu ihrer Wahl saß Blenkle 25 Jahre im Stadtrat. Sie hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie den stellvertretenden Bürgermeister wenig schätzt.
Die Wahl hat die Machtverhältnisse verschoben. Sie bescherte Blenkle die stärkere Position. Schon in den ersten Arbeitswochen versuchte sie, Otto Abmahnungen zu erteilen. Während dieser im Urlaub war, wurde sein Büro durchwühlt, Schubladen und Schränke auf der Suche nach Akten aufgebrochen. Am 31. August 2015 stellte sie den Dezernenten schließlich frei. Die Begründung: Untreue. Otto soll Aufwandsentschädigungen aus einer Aufsichtsrattätigkeit nicht an die Stadt abgeführt haben.
Die Vorwürfe sind haltlos. Doch Henning K. Otto hielt es nicht länger aus. Noch in der Stunde seines Abgangs folgte ein weiterer Eklat. Als Otto das Rathaus verlassen wollte, verlangte Blenkle Einblick in seine privaten Sachen, um den Inhalt zu überprüfen. Zu seinem Schutz rief Otto die Polizei.
Achtzehn Monate ist das her. 30.000 Euro Schadensersatz hat ihm ein Arbeitsgericht inzwischen zugesprochen – zu zahlen aus der Stadtkasse. Blenkle sei ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen, dies sei eine „grobe Verletzung“, urteilten die Richter. Henning Konrad Otto ist heute wieder stellvertretender Bürgermeister – nicht mehr in Haldensleben, sondern im 37 Kilometer entfernten Helmstedt. Der fünffache Vater hat die Börde mit seiner Familie verlassen. Elf Jahre arbeitete er unter Norbert Eichler. Acht Wochen unter Regina Blenkle. Wenn er daran zurückdenkt, schüttelt er immer noch mit dem Kopf. „Frau Blenkle ist zu sachlichen Entscheidungsprozessen nicht fähig“, sagt er. „Ihre Mittel sind Behauptungen und Klagen.“ Henning Konrad Otto ist nicht das einzige Opfer von Regina Blenkle. Seit sie Bürgermeisterin ist, gibt es diverse Gerichtsverfahren wegen Personalangelegenheiten. Blenkle hat in eineinhalb Jahren mehr Abmahnungen erteilt als ihr Vorgänger in 25. Eine Frau aus der Verwaltung, die aus Angst vor beruflichen Konsequenzen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Die Mitarbeiter, deren Nase Frau Blenkle nicht passt, werden entweder entlassen oder versetzt.“ Auch unter Eichler sei nicht alles gut gewesen. „Da gab es auch mal Unstimmigkeiten. Aber das ist nichts im Vergleich zu Frau Blenkle: Sie hat ein Klima der Angst geschaffen und handelt willkürlich.“
Ingolf und Edyta Zander haben das zu spüren bekommen. Das Ehepaar leitete jahrelang die Haldensleber Jugendherberge. Einem Bekannten verschaffte Blenkle dort nach ihrer Wahl eine Stelle. Als sich Ingolf Zander über dessen unzureichende Arbeitsmoral beklagte, erhielt auch er sofort eine Abmahnung. Blenkle erhob auf Facebook sogar Mobbing-Vorwürfe gegen den Herbergsvater. Wieder musste ein Gericht um Klärung bemüht werden. Ergebnis: Die Abmahnung und noch eine weitere wurden aus der Personalakte gestrichen, auch Zanders Unterlassungsklage war erfolgreich.
Frieden im Rathaus? Die Bürgermeisterin reagierte auf ihre Art. Nur zweieinhalb Wochen später versetzte sie Zanders Frau Edyta, eine studierte Soziologin, in die Kernverwaltung – auf eine Sachbearbeiterstelle.
Mit ihrer Personalpolitik hat Blenkle große Unruhe gestiftet. Nicht nur mit Versetzungen. Auch mit Versorgungsposten. Zwei Gegenkandidaten, die bei der Bürgermeisterwahl im ersten Durchgang unterlegen waren und sich in der Stichwahl für Blenkle aussprachen, erhielten anschließend Jobs. Reinhard Schreiber bekam zuerst einen Posten in der Kernverwaltung. Weil diese Tätigkeit unvereinbar mit Schreibers Stadtratsmandat ist, wurde Blenkle erfinderisch – und strukturierte um. Sie ordnete seine Stelle der Kulturfabrik, einer nachgeordneten Stadteinrichtung, zu. Der andere Mitbewerber wurde als Sachbearbeiter installiert. Pikant: Eine Mitarbeiterin musste für ihn Platz machen. Nach gut 20 Jahren Dienstzeit in der Abteilung wurde sie versetzt.
Dem Stadtrat wurde dieses Treiben zu bunt. Nach einem Jahr Amtszeit setzten die Kommunalpolitiker im Sommer 2016 alle Hebel in Bewegung, um Blenkles Einfluss zu beschneiden. CDU, SPD und Linke bilden seitdem eine Anti-Blenkle-Allianz. Sie werfen der Bürgermeisterin Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch vor. Doch in ihrer Wut auf Blenkle begingen sie Fehler. Mittels einer Satzungsänderung sollte die Stadtchefin de facto entmachtet werden. Blenkle sollte nur noch über Aufträge im Volumen von bis zu 10.000 Euro verfügen dürfen, bei Entscheidungen über Personal und Gerichtsverfahren wollte der Stadtrat ihre Kompetenzen beschneiden.
Das Verwaltungsgericht Magdeburg kippte die Entscheidung Anfang März – das laufende Verwaltungsgeschäft ist Aufgabe der Bürgermeisterin. „Die Entscheidung ist nachvollziehbar, wir sind über das Ziel hinausgeschossen. Wir wollten Vergeltung, aber wir wussten uns auch nicht mehr anders zu helfen“, sagt jemand von der CDU heute. Die Hoffnungen ruhen nun ganz auf dem Disziplinarverfahren. „Frau Blenkle muss weg. Diese Willkür muss ein Ende haben.“
Das Klima ist vergiftet. Zwischen Blenkle und dem Stadtrat. Zwischen Blenkle und der Verwaltung. Zwischen Blenkle und der Wirtschaft. Schon wenige Wochen nach dem Amtsantritt sind die Unternehmer in der Börde auf die Barrikaden gegangen. Sie veröffentlichten einen offenen Brief. Blenkle blockierte den Bau einer wichtigen Umgehungsstraße – trotz einem positiven Stadtratsvotum. Bis zu zwei Jahre könnte sich das Projekt nun verzögern. Felix von Nathusius, langjähriger Geschäftsführer des Automobilzulieferers Ifa Rotorion, sagt, der Streit mit und die Auseinandersetzungen um Regina Blenkle hätten einen „massiven Imageschaden“ für Haldensleben zur Folge. „Die ganze Region ist nicht mehr für den guten Wirtschaftsstandort, sondern für dieses Puppentheater bekannt“, kritisiert er.
Wo ist die „süße Eintracht“ der vergangenen Jahre hin? Wer ist diese Frau, die eine ganze Stadt in Aufregung versetzt hat?
Regina Blenkle ist in Haldensleben tief verwurzelt. Vor der Wende war sie Teil des Systems, als Mitarbeiterin beim Rat des Kreises. Nach der Wende, seit 1990 im Stadtrat, arbeitete sie häufig gegen das System. Von 1994 bis 1998 saß sie für die PDS im Landtag. Auch damals sei sie schon eine „Solo-Spielerin“ gewesen, sagen alte Weggefährten. „Sie hatte immer ihre eigenen Positionen.“ Ein Job mit Führungsverantwortung findet sich in ihrer Vita nicht, zuletzt war sie Berufsbetreuerin.
2008 ist sie bei der Bürgermeisterwahl an Norbert Eichler gescheitert. Beim nächsten Versuch 2015 sammelte Blenkle die Unzufriedenen hinter sich. Diejenigen, die nicht von der guten wirtschaftlichen Entwicklung profitiert haben. Die, die auch gegen das System sind, meinen die lokalen Politiker. Ihren Anhängern hat es gefallen, wenn sie die Stadtverwaltung als korrupt und unfähig hingestellt hat. Auch ein lokales Anzeigenblatt, der „Skep-Ticker“ zog mit und entfachte ein Dauerfeuer auf die Verwaltung. Sie sei „aus der Mitte der Stadt“, anders als Otto, der Mann aus dem Westen, hat Blenkle im Wahlkampf stets betont. Dass Otto schon seit elf Jahren in Haldensleben wohnte, war da nebensächlich.
Vor allem auf Facebook wetterte Blenkle immer wieder gegen „25 Jahre ‚Eichler-Ära‘“. Diese seien „genug der Vetternwirtschaft, der kleinen Geschenke und gegenseitigen Gefälligkeiten“, ist dort zu lesen. Dem ehemaligen Bürgermeister warf sie vor, dass sich dieser kostenlos Wein von den Stadtwerken liefern lasse. Sie zeigte Eichler an. Als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zu den Untreue-Vorwürfen einstellte, legte Blenkle Einspruch ein. Ihren Unterstützern im Internet vermittelte sie vor allem das Bild der Kümmerin: Ich bin für euch, mit mir als Bürgermeisterin wird alles besser.
Viele ihrer Unterstützer halten Blenkle auch heute noch die Treue. Michael Reiser, der im Stadtrat einen Zusammenschluss verschiedener Wählergemeinschaften anführt, sagt: „Frau Blenkle ist gewählt. Das ist zu akzeptieren!“ Dass CDU, SPD und Linke bereits nach drei Monaten Amtszeit ein Disziplinarverfahren eingeleitet haben, ist für ihn der Beweis, dass Blenkle „mit Lügen weggemobbt“ werden soll. Die umstrittenen Einstellungen verteidigt Reiser.
Auch Jan Hoffman von der Bürgerinitiative „Für Haldensleben“ kann „keine Gründe erkennen, die eine Suspendierung rechtfertigen würden“. Der Stadtrat erkenne das Wahlergebnis nicht an, kritisiert er. Hoffmann will Anfang April einen runden Tisch mit allen Fraktionschefs, Blenkle, dem Landrat und der Kirche einberufen, um „die Probleme auszuräumen“. Doch es ist fraglich, ob die Akteure daran teilnehmen werden.
Während ihrer Suspendierung ist Blenkle damit das Gesprächsthema Nummer eins in Haldensleben. Seit ihrem Amtsantritt geht das so. Auch wegen sonderbarer Auftritte. Im Dezember 2015 ist sie wegen einer Lappalie vor Gericht gezogen. Einer alten Freundin hatte sie eine Tüte mit 20 Jahre alten Kleidern überlassen – doch die wollte die Sachen gar nicht haben. Auch nach mehreren gemeinsamen Kaffeekränzchen wechselte die Kleidertüte nicht wieder den Besitz.
Also entsorgte die Freundin die Klamotten. Als sich Regina Blenkle Monate später mit ihr überwarf und die Sachen zurückwollte, stellte sie Strafantrag wegen Unterschlagung. Und scheiterte erwartungsgemäß vor Gericht.
Eine Bürgermeisterin, die wegen einer solchen Posse vor Gericht erscheint: Für die einen ist das zum Lachen, andere macht es fassungslos. Blenkle verwundert. Nicht nur mit Privatangelegenheiten, sondern auch mit ihren Amtshandlungen. Kurz nach ihrer Wahl hat die Bürgermeisterin öffentlich erklärt, dass sie nun wie jeder andere Mitarbeiter im Zeiterfassungssystem ein- und auschecke. Überstunden soll sie abbummeln, heißt es im Rathaus. So etwas gibt es für Spitzenbeamte eigentlich gar nicht. Die Mehrarbeit ist mit dem Gehalt abgegolten.
Wie lange Regina Blenkle dieses noch beziehen wird, ist offen. Seit Anfang Februar ist sie suspendiert. Ihr Dienstrechner wurde von der Kriminalpolizei beschlagnahmt, nachdem im Rathaus Akten gestohlen worden sind. Es gibt die wildesten Spekulationen, wer das gewesen sein könnte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Parallel dazu treibt eine Gutachterin das Disziplinarverfahren voran. Die Option Amtsenthebung werde ernsthaft geprüft, heißt es aus dem Innenministerium. Anfang Mai könnte eine Entscheidung vorliegen.
Regina Blenkle will zu den Vorwürfen im Moment nichts sagen. Sie teilt der Volksstimme mit: „Solange meine Suspendierung nicht aufgehoben ist, werde ich mich zu den Vorgängen nicht äußern.“
Viele im Rathaus hoffen darauf, dass Blenkle nicht wieder als Stadtchefin eingesetzt wird. Die Angst ist groß, dass sie ihren Kurs fortsetzen könnte. „Holder Friede“, wie von Schiller mit auf den Weg gegeben, unter Blenkle? Das halten nur die wenigsten in Haldensleben noch für möglich. Ein Mitarbeiter sagt: „Wenn sie zurückkommt, will und werde ich hier nicht länger arbeiten.“