30 Jahre Mauerfall Doppelter Neuanfang für Andreas Silbersack
Andreas Silbersack will Oberbürgermeister in Halle werden - in der Stadt, die er 1989 als Flüchtling verließ und später zurückkehrte.
Magdeburg/Halle l Der Urlaub muss in diesem Jahr ein bisschen kürzer ausfallen. Ein paar Tage verbringt Andreas Silbersack zurzeit mit der Familie in Südtirol. Aber das Zeitfenster ist in diesen Sommerferien ein bisschen kleiner als sonst. „Der Wahlkampf“, sagt der 51-Jährige, „wirft einfach seine Schatten voraus.“
Im September 2019 will Andreas Silbersack neuer Oberbürgermeister von Halle werden. Er fordert als gemeinsamer Kandidat von FDP und CDU den Amtsinhaber Bernd Wiegand (parteilos) heraus. Und es ist nicht übertrieben zu behaupten: Gewinnt er diese Wahl, würde sich ein Kreis schließen. Silbersack wäre dann das Oberhaupt seiner Geburtsstadt. Der Stadt, der er in den Wirren der Wendezeit 1989 eigentlich den Rücken gekehrt hatte. Der Stadt, in die er 1996 trotzdem zurückgekehrt ist.
Andreas Silbersack ist kein Unbekannter in Sachsen-Anhalt. Einen Namen machte er sich vor allem als Sportfunktionär, als Präsident des Landessportbundes. Den maroden Sport-Dachverband übernahm er im Jahr 2008, rettete ihn mit finanziellem und juristischem Know-how, vor allem aber mit viel politischem Geschick vor dem Ruin. Der Vater von drei Söhnen ist heute auch ehrenamtlicher Vizepräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, engagiert sich leidenschaftlich für die Special-Olympics-Bewegung, die Sportorganisation für geistig Behinderte. Und er ist erfolgreicher Jurist mit Kanzlei in Halle.
Das alles lässt nicht unbedingt vermuten, dass der Lebenslauf des Andreas Silbersack zwei große Brüche hatte, dass er zweimal in seinem Leben quasi bei null wieder anfing. Diese Geschichte beginnt im April 1989. Es ist die Geschichte seiner Flucht, die ihn erst knapp ein halbes Jahr später tatsächlich in den Westen führen wird.
Andreas Silbersack ist 21 Jahre alt, er studiert zu diesem Zeitpunkt Deutsch und Geschichte in Halle. „Wir waren eine Gruppe von sieben Freunden“, erinnert er sich. Alle stammen aus bürgerlichen Elternhäusern. Und alle sehen sich existenziellen Zukunftsfragen gegenüber. Es ist die Zeit, in der das System erodiert, die Zeit der großen Perspektivlosigkeit kurz vor der Wende. „Einer von uns war bereits geflohen, ein weiterer saß wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis“, erinnert sich Silbersack.
Es ist der Moment, in dem auch er beschließt, mit einem seiner Freunde in den Westen zu flüchten. Ein für ihn prägendes Ereignis, an das er sich auch heute, 30 Jahre später, bis ins letzte Detail erinnern kann. „Der Plan war, in Tschechien über die Grenze zu fliehen. Dafür hatten wir uns aus Staubsaugerrohren eine Vorrichtung gebaut, um über die Zäune klettern zu können.“
Mit dem Zug geht es nach Pilsen, dann weiter in Richtung Süden. „In Lusen wollten wir über die Grenze.“ Doch so weit kommt es nicht. Weil es im Leben die Momente gibt, in denen der Mut eines Planes von der Angst vor der Realität übermannt wird. „Es ist vielleicht schwierig nachzuvollziehen“, sagt Andreas Silbersack, „aber in dem Moment, als wir in der Nähe der Grenze waren, hat mich einfach die Angst überkommen.“ Die Panik, erwischt zu werden. „Ich konnte es einfach nicht mehr durchziehen.“
Der Versuch endet, bevor er überhaupt begonnen hat. Silbersack kehrt zunächst zurück nach Halle. Sein Freund versucht später allein die Flucht – und wird tatsächlich erwischt. „In der Gerichtsverhandlung musste ich sogar als Zeuge aussagen.“ Dass er selbst Teil des Fluchtplanes gewesen ist, bleibt geheim. Es ist sein Glück. Sein Freund wird verurteilt. Und was bleibt, ist noch mehr Desillusionierung. „Zu diesem Zeitpunkt galt für meinen Freundeskreis: Einer war abgehauen, zwei saßen im Knast.“
Also startet Andreas Silbersack wenige Wochen später den zweiten Versuch, die DDR zu verlassen. Gemeinsam unter anderem mit seinem Bruder. Dieses Mal über Ungarn, wo die Öffnungspolitik zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich vorangeschritten ist: Botschaft der Bundesrepublik in Budapest, Malteser-Lager Zugliget-Kirche – seine Stationen sind die, die in jenen Tagen Tausende andere DDR-Bürger durchmachen.
Doch Andreas Silbersack erlebt in jenen Tagen auch etwas, was er noch drei Jahrzehnte später als charakterprägend für sich deutet: Gastfreundschaft. Offenheit gegenüber anderen. Denn der Weg in Ungarn führt seine kleine Gruppe zu Familie Varga. Eine Großfamilie, die in den Budaer Bergen lebt.
„Die Familie hatte zehn Kinder“, erinnert er sich. „Die hatten selbst kaum etwas zu essen und haben uns trotzdem aufgenommen.“ Er campt im Garten der Familie. Wochenlang. Doch zur harten Flucht, bis zu diesem Moment der Angst wie zuvor in Tschechien muss es gar nicht mehr kommen. Am 10. September 1989 öffnet Ungarn die Grenze nach Österreich. Der Weg in den Westen ist frei, ohne Panik. „Direkt am Tag danach haben wir uns auf den Weg gemacht.“ Und: Die Familie Varga begleitet die Flüchtlinge, bringt sie im Auto bis nach Passau. Dort ist die zentrale Anlaufstelle für die Ungarn-Flüchtlinge, in der an diesem 10. und 11. September Tausende weitere DDR-Bürger ankommen.
Silbersacks Weg führt schließlich nach Hürth in der Nähe von Köln. Wenn man so will, ist es der Tag null im neuen Leben. Und für das gilt es zuvorderst, Geld zu verdienen. „Ich habe dann recht schnell einen Job als Kommisionierer bei Coop gefunden“, erzählt er. Heißt: Er räumt Supermarkt-Regale ein. Vorwiegend in der Nachtschicht, weil die besser bezahlt ist. Wenig später heuert er bei einem Herren-Ausstatter in der Bonner Innenstadt an. „Für das Vorstellungsgespräch hatte ich mich extra bei C&A eingekleidet. So wurde ich Anzugsverkäufer.“
Und im Mai 1990 beginnt Andreas Silbersack schließlich mit dem Jura-Studium. In Bonn, der Bundeshauptstadt. Was ebenfalls durchaus prägend sein wird. Denn um Geld zu verdienen, arbeitet er parallel für einen Catering-Service, der bei großen politischen Empfängen gebucht wird. Dort bewirtet er die Politiker. Und auch wenn er nur der kleine kellnernde Jura-Student ist, sagt er heute: „Dort haben sich für mich neue Welten erschlossen.“
Obwohl sich Andreas Silbersack seinen Lebensunterhalt komplett selbst finanzieren muss, peitscht er sein Studium durch. Schon im Oktober 1994 legt er das 1. Staatsexamen ab. Um drei Monate später den Entschluss zu fassen, zum zweiten Mal in seinem Leben alle Zelte abzubrechen und komplett von vorn anzufangen.
Im Dezember 1994 kehrt er nach Halle zurück. Und man muss keine großen gesellschaftlichen Zusammenhänge suchen, um diesen Entschluss zu interpretieren. Es ist die Familie, seine Eltern. Vor allem aber ist es die Liebe, die ihn zurückführt: Yvette. Im Juni 1992 hat er seine heutige Frau bei einem Besuch in Weimar kennengelernt. Eine Medizinstudentin, die mit ihm das Hobby teilt: Handball. „Ich hätte im Rheinland bleiben können“, sagt Silbersack. „Ich habe mich dort wohlgefühlt, ich hätte dort ein gutes Leben gehabt.“
Was in der Anfangszeit in Halle nicht unbedingt gilt. Er beginnt zum zweiten Mal bei null. Denn der Weg zurück in den Osten ist einer in die materielle Ungewissheit. So, wie er es fünf Jahre zuvor in den Westen auch war. Klar, er ist Jurist. Aber die Jobs liegen nicht auf der Straße. „Um Geld zu verdienen, habe ich erst einmal auf dem Bau gearbeitet“, erzählt Silbersack. Als Hilfsarbeiter. „Ganz unten in der Hierarchie.“ Und aus seiner Erzählung darf man entnehmen, dass es eine gewisse Leidenszeit für ihn war.
Nach ein paar Wochen stellt sich Silbersack schließlich in einer Kanzlei vor. Als Rechtsanwaltsfachangestellter. Eigentlich ist er dafür überqualifiziert, aber die wirtschaftliche Lage in Halle bietet nicht viele Chancen. Er wird genommen, 1997 legt er sein 2. Staatsexamen ab, ehe er sich 2001 mit seiner ersten Kanzlei schließlich selbstständig macht.
Die Brüche im Leben, so sagt man gern, sind die Momente, die besonders charakterprägend sind. Andreas Silbersack hat zwei solcher Brüche erlebt, hat zweimal ganz von vorn angefangen. Im Rückblick, so sagt er, habe er daraus vieles mitgenommen. Seinen großen Respekt vor Ehrenamtlern beispielweise. „Als wir nach Passau kamen, wäre es ohne Organisationen wie die Malteser nicht gegangen.“
Vor allem aber eine große Offenheit gegenüber anderen. Den Kontakt zu seinen ungarischen Gastgebern hält Silbersack bis heute aufrecht. Als er vor knapp zwei Jahren seinen 50. Geburtstag feierte, waren die Vargas dabei, dieses Mal waren sie seine Gäste in Halle.
Und es gibt noch eine weitere Geschichte, die so wunderbar erzählt, was Silbersack mit Offenheit gegenüber anderen Menschen meint: Vor Jahresfrist lernten er und seine Familie im Urlaub in Lissabon durch einen Zufall ein brasilianisches Ehepaar kennen. Das half, als die Silbersacks Probleme beim Hotel-Check-in hatten. „Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass die Tochter Juristin ist“, erzählt Silbersack. Was mit einem losen Plausch begann, hat sich längst zu einem festen Kontakt entwickelt. Im Juni war die Brasilianerin zu Gast bei seiner Familie. In Kürze wird sie sogar ganz nach Halle übersiedeln.
Andreas Silbersack will ihr dabei helfen, Fuß zu fassen. Er kennt diese Situation des Neuanfangs nur zu gut. Und gut möglich, dass er dann bereits Oberbürgermeister dieser Stadt ist. Der Stadt, in der er vor 25 Jahren selbst neu angefangen hat.
Mehr Infos rund um das Thema gibt es im Dossier "30 Jahre Mauerfall".