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Organspende Ein zweites Leben für Kesrin

Kesrin Weber feiert künftig zweimal Geburtstag. Ein Organspender hat ihr gerade mit seiner Leber ein neues Leben geschenkt. Allein in Sachsen-Anhalt warten rund 430 Menschen darauf, dass auch sie mit einem Organ gerettet werden. Doch nach dem Vergabeskandal vor drei Jahren kehrt das Vertrauen nur langsam zurück.

Von Elisa Sowieja 05.06.2015, 03:29

Magdeburg/Güsen l Lilien schlingen sich verspielt um Kesrins Oberarm. Auf der Innenseite rahmen sie einen englischen Schriftzug ein: "Hope dies last" - die Hoffnung stirbt zuletzt. 2008 hat sich die junge Frau aus Güsen (Jerichower Land) das großflächige Werk tätowieren lassen. "Um die gelbe Farbe meiner Haut zu verdecken", sagt sie. Und um sich immer wieder daran zu erinnern, dass sie um ihr Leben kämpfen will.

Neun Jahre lang stand die heute 26-Jährige auf der Warteliste für eine Leber. Bei einer Routineuntersuchung hatte ihr Arzt erhöhte Leberwerte festgestellt. Die Diagnose: Morbus Wilson, eine seltene Erbkrankheit. Dabei kann der Körper durch einen Gendefekt Kupfer nicht in ausreichendem Maße ausscheiden. Die Folge: Schon als Teenager litt die Güsenerin an Leberzirrhose.

Dass man neun Jahre auf ein Organ wartet, ist nicht ungewöhnlich, sagt Dr. Jörg Arend. Der Chirurg behandelt Kesrin Weber am Magdeburger Universitätsklinikum, wo sich eines der bundesweit 23 Transplantationszentren für Lebern befindet. "Lebern werden nicht nach Wartezeit vergeben, sondern nach Dringlichkeit", erklärt er.

"Den Kopf in den Sand zu stecken, war nie eine Option."
Kesrin Weber, Patientin

Womöglich hätte die junge Frau schon früher gerettet werden können. Doch als 2012 ans Licht kam, dass in vier deutschen Transplantationszentren Mediziner Krankenakten gefälscht haben sollen, um ausgewählte Patienten mit Organen zu versorgen, brach die Zahl der Spender ein. Zwischen 2011 und 2013 sank sie in Deutschland von 1200 auf 876, in Sachsen-Anhalt von 36 auf 30.

Für die Güsenerin waren besonders die vergangenen zwei Jahre Wartezeit eine Tortur. "Ich war ständig müde, mein Bauch schwoll immer mehr an", erzählt sie. "Und wie oft musste man mir Krampfadern in der Speiseröhre veröden?" Dann wurden auch noch zwei bösartige Tumore in der Leber entdeckt. Zu ihrem Glück streuten sie keine Metastasen. Doch in den acht Ländern, in denen die Organisation Eurotransplant Organe verteilt, gab es immer einen Patienten, dem es noch schlechter ging.

"In Grenzfällen tun sich die Ärzte schwer."
Dr. Jörg Arend, Chirurg

Ans Aufgeben dachte Kesrin Weber in all den Jahren trotzdem nicht, sagt sie. "Den Kopf in den Sand zu stecken, war nie eine Option. Wenn man leben will, muss man eben kämpfen." Die Güsenerin machte sogar - obwohl ihr Arzt von so viel Anstrengung nicht gerade begeistert war - ab 2011 noch eine Ausbildung zur Altenpflegerin. "Gerade, weil ich selbst krank war, wollte ich anderen helfen. Es ist einfach herrlich, wenn ich alten Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann!"

Der Rückgang der Spenderzahlen ist inzwischen gestoppt, in den ersten vier Monaten dieses Jahres gab es sogar wieder einen leichten Anstieg. Dr. Christa Wachsmuth von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), welche die Spenden in Deutschland koordiniert, führt das vor allem auf die Neuerungen zurück, welche Bundesregierung und Bundesärztekammer nach dem Skandal eingeführt haben.

So wurden die Krankenkassen verpflichtet, alle zwei Jahre Organspendeausweis und Infomaterial an ihre Mitglieder zu verschicken. Darüber hinaus wurden Kontrollen in Transplantationszentren erleichtert: Kliniken dürfen jetzt auch ohne Vorankündigung und konkreten Verdacht umfassend überprüft werden.

Mit diesen Befugnissen haben die Prüfungs- und die Überwachungskommission - getragen von Deutscher Krankenhausgesellschaft, Bundesärztekammer und dem Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen - inzwischen alle Zentren kontrolliert. Bis auf das Herzzentrum Berlin war keines auffällig. Nach Einschätzung von Professor Hans Lippert, Vorsitzender der Prüfungskommission und ehemaliger Chef der Chirurgie am Magdeburger Uniklinikum, haben diese Kontrollen die Vergabe sicherer gemacht. "Wir haben nicht nur geprüft, ob manipuliert wurde. Wir haben auch Probleme ermittelt und daraus Empfehlungen erarbeitet, aus denen Vorgaben geworden sind."

So wurde es etwa zur Pflicht, dass mindestens drei Ärzte auf einen Fall schauen müssen, bevor der Patient an Eurotransplant gemeldet wird. Zudem musste jede Klinik eine Handlungsanleitung erstellen, in der alle Eventualitäten - etwa die Abwesenheit bestimmter Kollegen - festgehalten sind. "Die Verteilung ist heute so sicher wie nie", sagt er. Alle drei Jahre soll jedes Zentrum nun überprüft werden.

Für den Erfolg der Neuerungen spricht auch eine aktuelle Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Demnach stehen 80 Prozent einer Organspende positiv gegenüber. 35 Prozent der Befragten haben einen Organspendeausweis ausgefüllt, 13 Prozent mehr als 2012.

Von einer Einverständniserklärung profitiert Kesrin Weber seit genau elf Wochen. Am 20. März gegen 20 Uhr, die junge Frau war gerade auf dem Rückweg von einem Freund in Burg, klingelte ihr Handy. Die Mama war dran. "Erst hat sie nur geweint", erinnert sich die 26-Jährige. "Dann meinte sie: `Die haben eine Leber für dich!` Ich bin sofort zu ihr gefahren. Als ich ankam, war nur noch Error in meinem Kopf."

Gleich am nächsten Morgen pflanzten ihr die Ärzte neues Leben ein.

Auch wenn es langsam wieder mehr Lebensretter für Menschen wie Kesrin Weber gibt: Verunsicherung herrscht weiterhin, berichtet Chirurg Arend: "Noch immer haben manche Angehörige von Hirntoten Angst, die Organe könnten nicht an die Menschen gehen, die sie am dringend-sten brauchen."

Auch die Ärzte seien teils verunsichert. "In Grenzfällen tun sie sich schwer, weil sie so sehr darauf bedacht sind, keinen Fehler zu machen." Ein Beispiel: Erhält ein Leberkranker ein Organ, obwohl er statt der geforderten sechs Monate erst fünf Monate und drei Wochen keinen Alkohol trinkt? Allerdings können Ärzte im Zweifel eine Organspende-Kommission zu Rate ziehen.

"Die Organvergabe ist heute so sicher wie nie."
Prof. Hans Lippert, Prüfungskommision

Arends Eindruck bestätigt auch Wachsmuth von der DSO: "In der Bevölkerung hat sich der Vergabeskandal manifestiert. Zudem melden Kliniken seltener Spender als zuvor - auch deshalb, weil teils das Personal Vertrauen in die Organspende verloren hat."

Für Angehörige von Hirntoten, sagt sie, seien die Bedenken nach dem Skandal jedoch nicht das Hauptproblem. "Viele zögern eher, weil sie der Organentnahme nicht über den Kopf ihrer Lieben hinweg zustimmen wollen." Daher appelliert sie: "Jeder sollte einen Organspendeausweis ausfüllen - auch wenn er seine Zustimmung verweigert. So entlastet er seine Angehörigen." Wenn für eine Familie solche Entscheidung ansteht, schickt die DSO einen Koordinator, der sie neben dem Klinikarzt betreut und berät. Nach einer Spende bietet sie Unterstützung durch Angehörigentreffen an.

Kesrin Weber machte sich als Teenager nie Gedanken über Organspenden. "Das Thema war früher so weit weg von meinem Leben", sagt sie. Doch dann riss es ihr gleich zweimal den Boden unter den Füßen weg. Denn fünf Monate vor ihrer Transplantation bekam auch ihr Bruder Rodger eine Spenderleber. Er möchte allerdings nicht in die Zeitung.

Rodger hatte wie Kesrin Morbus Wilson, nur konnte der Gendefekt bei ihm erst spät nachgewiesen werden. Dafür äußerte er sich dann sofort lebensbedrohlich. "Als seine Leber versagte, war das der Horror für mich", erinnert sich die 26-Jährige. "Da hab` ich erst gesehen, wie knapp es für uns beide war."

Ein halbes Jahr ist Kesrin Weber noch krankgeschrieben. "Aber am liebsten würde ich gleich morgen wieder zu meinen Patienten fahren", sagt sie. Bis sie wieder loslegen darf, vertreibt sich die Güsenerin die Tage beim Kaffeeklatsch mit ihrer besten Freundin Svenja - und mit Aufrufen: "Ich habe meine Facebook-Freunde schon ein paar Mal gebeten, sich über Organspende zu informieren und einen Ausweis auszufüllen." Mit Erfolg: "Einige haben sich jetzt so einen Schein zugelegt."