Aussteiger Einfach den Traum leben
Einfach aussteigen, etwas ganz anderes machen, den Neustart wagen. Sachsen-Anhalts Landleben bietet dafür das perfekte Ambiente.
Magdeburg l Ein Waldweg zwischen Colbitz und Angern. Nach 200 Metern steht da ein Haus, ein Bonsai-Schloss wie aus dem Märchenbuch. Heinrichshorst. Eiserne Hirsche wachen am Eingangstor. Keine Klingeln nirgendwo. Beim Umwandern der 1899 für den Magdeburger Brauereimeister Gustav Wernicke gebauten Residenz fällt der Blick auf morbide Türmchen und Erker. Zu DDR-Zeiten war es ein Kinderheim. Danach verfiel das Anwesen langsam.
Doch jetzt sind erste Renovierungsarbeiten sichtbar. Dachschindeln wurden geflickt, Putz erneuert. Und da ist auch eine Tür. Knarrend führt sie in die Eingangshalle. Die Hausherrin schwebt die Freitreppe hinab. Erster Gedanke: Addams Family. Schwarz-bläuliches Tuch, eine schmale, bleiche Schönheit. "Kommen Sie", sagt sie leise und führt in den Salon. Kronleuchter, Gemälde, eine lange Holztafel. Neben ihr nimmt Ehemann Dirk Platz. Sein gezwirbelter Bart erinnert an Salvador Dali. Zur Familie gehört auch der fast vierjährige Sohn Orfeo.
Dirk und Viona Standaert sind zwei aus Raum und Zeit gefallene Künstler aus Antwerpen, die ihre Heimstätte auf Schloss Heinrichshorst gefunden haben. Eigentlich gehörten sie mehr ins mittlere 19. Jahrhundert nach Transsilvanien, aber nun sitzen sie im Wald bei Zielitz. Und das ging so: "Nicht wir haben das Haus, sondern das Haus hat uns gefunden", erzählt Dirk Standaert. 2008 war das. Ein winziges Bild im Internet. 2009 der erste Besuch. Begeisterung pur. Ein Traum, unbezahlbar in Belgien.
Familie Standaert kauft Heinrichshorst. Die Entscheidung über den Einzug fiel 2012. Die Eltern waren nicht begeistert, was sich bei ihrem Vater zunehmend änderte. Trotz löchriger Fenster, trotz Holzwürmern. "Im großen Ganzen ist die Bausubstanz noch sehr gut erhalten", hat der Hausherr herausgefunden. Er sieht die Renovierung als Langzeitprojekt, als Lebensaufgabe.
Dieses Schlösschen ist aber auch wie geschaffen für ihn, den Eventmanager, und sie, die Aktionskünstlerin und Fotografin. Sie ist die Erfinderin des "Viktorianischen Picknicks" beim Leipziger Wave-Gotik-Treffen. Beide organisieren in halb Europa dunkel-romantische Bälle auf Schlössern und Burgen. Auf Heinrichshorst leben sie in Teilzeit. Hier finden sie Ruhe nach den Reisen. Renovieren, Gartenarbeit, Erholung.
Doch der kleine Orfeo kommt bald in den Kindergarten. Dann bleiben sie vielleicht länger. So wie im Sommer 2013. Da entstand im Schloss der bizarre Bildband "Noble Blood Vampire Chronicle". Blutige Vampirbilder von bildschönen Säugern. Aufwendig produziert, aufgenommen mit Freunden, Spaß und sehr viel rotem Wein.
Neustart. Den Traum leben. Landflucht. Wer traut sich das? Ein Privileg von Künstlern, so scheint es. Auch die Malerin Grit Rademacher hat mit ihrer Familie den Schritt gewagt. Geboren in Neubrandenburg, lange wohnhaft in Werder, gelebt in Berlin. Nun spaziert sie am Ortsrand von Jerchel bei Tangerhütte am Feldweg entlang und schwärmt von der Walliser Schwarzhals-Ziege. "Wenn man die Herde so in der Landschaft beobachtet, kann das auch sehr inspirierend für die Malerei sein", sagt sie.
Gemeint ist die langhaarige "Zottel-Geiß", wie die Schweizer diese Ziegenart nennen. Grit Rademacher hat die knuddeligen Tierchen "in einem alten Heidi-Schinken" gesehen. "Wenn schon Ziegen, dann bitte die, habe ich zu meinen Kindern gesagt", erzählt sie. Aus Bayern mit dem Pferdehänger hat die Malerin dann mit Ehemann Andreas vier Muttertiere und einen Bock nach Jerchel geholt. Dort fühlte sich Herr "Zottel" recht wohl - im Sommer wächst die Herde immer auf rund 20 Tiere an, vor dem Winter wird geschlachtet. Die Malerin selbst greift nicht zum Beil. "Wir bringen die Tiere zum Schlachter. Aber die Auswahl zu treffen, fällt schwer."
Sie greift lieber zum Pinsel. "Zwischen Landschaftsmalerei und Symbolismus", verortet sie ihre Bilder. Der Schweinestall wurde zum Atelier. Unten stehen ein Keramikofen und eine Druckerpresse. Hier veranstaltet sie auch Kurse für Kinder und Erwachsene. Die Treppe hinauf führt in ein sonnendurchflutetes Atelier mit großen Tischen und Holzofen. Spektakulär: Ein 1,70 Meter großes Kreisfenster unterhalb des Giebels gibt den Blick auf Wälder und Wiesen frei. Im Winter hier nach draußen zu blicken, während der frostige Wind den Schnee von den Zweigen fegt und im Ofen die Holzscheite knistern - das muss schon sehr nah dran sein, an dem, was man Glück nennt.
Die Rademachers in Jerchel - das ist eine Geschichte von Flucht und Ankommen. Sieben Kinder hat das Paar auch aus früheren Beziehungen, zwei gemeinsam, drei Kinder leben mit in Jerchel. 2007 bei Freunden zu Gast und in den Ort verliebt. 2009 Grundstück und Haus gekauft. Es folgt ein Komplettumbau. 2011 Umzug auf die Baustelle. 2013 ist das Wohnhaus fertiggestellt.
Die Rademachers heute: Das sind sechs Pferde, zwei Meerschweinchen, ein Hund, Hühner, Ziegen - 53 Tiere, um es abzukürzen. Ställe, eine alte Scheune, ein wilder Blumengarten, vor allem aber ein prächtig saniertes Bauernhaus im Stile altmärkischer Klinkerbauten mit dickem Dielenfußboden und offener Wohnküche.
Hier war unübersehbar ein Fachmann am Werk. Ehemann Andreas hat jahrelang als Mitinhaber eines Architekturbüros mit bis zu 35 Mitarbeitern in Berlin am ganz großen Rad gedreht. "Nach meinem Ausscheiden hat das Büro das Innenministerium gebaut und das Außenministerium", erzählt er. "Aber irgendwann stand die Frage: Soll das bis zur Rente so weitergehen? Oder will man den Traum wirklich leben, den man vom Leben hat", erzählt er nachdenklich.
Architekt ist er heute kaum noch. "Die finanziellen Ressourcen", sagt er, "reichen vorerst aus." Dabei lehnt er in der Keramikwerkstatt an einer steinernen Pferde-Futterrinne, die in Hüfthöhe drei Meter lang aus der Wand ragt. Seltsam. Da kam doch nie ein Schwein heran, so hoch, wie die hängt? "Wir haben den Fußboden des Stalles tiefergelegt, aber die Rinne erhalten."
Ortswechsel. Gladigau, ein kleines Dorf unweit von Osterburg. Der Wind weht trockene Zweige über die leere Dorfstraße. Reinhold Heitkötter lehnt am Holzpfahl, zieht den Hut tief ins Gesicht und blickt zu den Pferden hinüber. Er wartet. Wieder so ein Tag in Gladigau, an dem alles passieren kann und nichts. Die Hitze flimmert über dem Kopfstein. "Da kommt sie", sagt er mit knorriger Stimme. Es ist seine Frau. Langsam reitet Karin die Dorfstraße hinauf. Sie wirkt etwas angeschossen. Ein anstrengender Tag liegt hinter ihr - bei der Barmer-Ersatzkasse in Magdeburg.
So kann man sich - dezent überspitzt - einen typischen Tag im Leben von Familie Heitkötter-Hofeditz vorstellen. Keine Künstler, Lebenskünstler höchstens. Beide sind Rechtsanwälte. Er hatte bis vor vier Jahren eine gut gehende Kanzlei als Fachanwalt für Medizinrecht in Hagen, Nordrhein-Westfalen. Sie arbeitete als Referentin bei Barmer in Wuppertal. Und dann haben die Eheleute zuerst ihre Leidenschaft für American Quarter Horse - eine kleine gutmütige amerikanische Pferderasse - entdeckt und dann für die Altmark.
"Nur in der Altmark war dieser Lebenstraum plötzlich finanzierbar. Heute fühlen wir uns hier sehr wohl", erzählt Karin Hofeditz. Auslöser war ein Besuch auf einem Ponyhof 2003 im benachbarten Schartau. Dann ging die Suche nach einem eigenen Vier-Seiten-Hof los. In Gladigau schließlich haben sie ihre Ranch - 5,5 Hektar, Koppeln und Reitplätze - einer 85-Jährigen Dame abgekauft, die nach Osterburg gezogen ist.
Zehn Pferde sind es inzwischen. Reitkurse werden veranstaltet, und ein kleines Ferienhaus steht zur Vermietung. Tochter Fabia, 14 Jahre, fand den Umzug 2011 auch in Ordnung. "Ich musste sowieso die Schule wechseln und habe endlich eine Katze", erzählt sie.
Ganz ohne festen Job traut Familie Heitkötter-Hofeditz ihrem neuen Leben aber dann doch nicht über den Weg. Karin pendelt mit der Bahn - nicht mit dem Pferd - jeden Tag zur Arbeit nach Magdeburg. Und Reinhold hat sich auf seiner Ranch ein kleines Anwaltsbüro eingerichtet. Geht das in Gladigau? "Die Anzahl von Fachanwälten für Medizinrecht ist überschaubar. Wer mich sucht, findet mich", sagt er.
Viel wichtiger aber ist: Der Cowboy aus NRW ist jetzt lizenzierter Westernreitlehrer. Und wer ihn kennengelernt hat, weiß: Das ist seine eigentliche Berufung.