Seit 1991 haben mehr als 200 traumatisierte Kinder ein neues Zuhause beim Albert-Schweitzer-Familienwerk gefunden Familienwerk sucht händeringend nach neuen Kinderdorfeltern
Zerbst/Magdeburg l Amelie ist ein kleines, quirliges Mädchen. Die Neunjährige lacht und spielt gerne, wie alle ihre Altersgenossen. Unter ihrem Bett hat sie aber nicht Kuscheltiere und Spielzeug versteckt, sondern einen Notfall-Koffer. Er ist vollgestopft mit Lebensmitteln, denn als Kleinkind hat sie von ihren leiblichen Eltern selten ausreichend zu essen bekommen.
Obwohl diese Zeit Jahre zurückliegt, rechnet Amelie noch immer damit, eventuell nicht genügend zu essen zu bekommen. Trotz vier Jahren psychologischer Einzelbetreuung nässt das traumatisierte Mädchen noch manchmal ein, wird gewalttätig gegen sich und andere und kann kaum ohne Aufsicht bleiben.
Amelie ist eins von rund 30 Kindern, die momentan in einem Kinderdorfhaus des Albert-Schweitzer-Familienwerkes bei neuen, liebevollen Eltern leben. Vor mehr als 20 Jahren, am 12. April 1991, wurde das erste dieser Häuser in Deetz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) eröffnet. Kinder und Jugendliche, die dauerhaft Familie und Umfeld verlassen müssen, sollten in einem normalen Wohnumfeld ein neues Zuhause finden, statt ins Heim zu kommen. Zu den besten Zeiten Ende der 1990er Jahre hatte der Verein elf Kinderdorfhäuser im ganzen Land. Nun sind es nur noch rund 30 Kinder, die bei fünf Kinderdorf-Elternpaaren in Magdeburg, in Zerbst und seinen Ortsteilen Strinum und Walter-nienburg leben.
"Dieser Rückgang ist ein bundesweites Phänomen", sagt Dagmar Hellfritsch, Leiterin des Dezentralen Kinderdorfes. Zum einen seien viele Eltern der "ersten Stunde" ausgeschieden. Gleichzeitig könnten sich immer weniger Menschen vorstellen, sich in einer Art Großfamilie rund um die Uhr um bis zu sieben Kinder aus schwierigen Verhältnissen zu kümmern. Das müssten die Eltern natürlich nicht alleine tun - Familien mit sieben Kindern stehen zwei Vollzeit-Erzieher zur Seite, außerdem eine Hauswirtschaftskraft. Kinderdorfmutter oder -vater haben eine pädagogische Ausbildung, sind beim Familienwerk angestellt und bekommen ein Haus zur Verfügung gestellt, das den Anforderungen einer Großfamilie entspricht. In der Regel melden sich Jugendämter anderer Städte oder Regionen beim Familienwerk und suchen ein Zuhause für Kinder, die auf Zeit oder dauerhaft nicht bei ihren Familien bleiben können. Weit weg vom alten Umfeld sollen sie die Chance bekommen, noch einmal neu anzufangen. "Wir wollen den Kindern einen möglichst normalen Alltag bieten", sagt Dagmar Hellfritsch. Gleichzeitig sollen die Kinder, wenn möglich, nicht den Kontakt zur Ursprungsfamilie verlieren und besuchen sie regelmäßig. Auf den Wandel reagiert das Familienwerk mit der Einrichtung von sogenannten Familienfachstellen. Dahinter verbergen sich quasi Mini-Kinderdorffamilien, denn die Eltern behalten ihre eigenen Wohnungen und nehmen maximal zwei Kinder auf. Eine dieser Stellen gibt es bereits in Köthen (Anhalt-Bitterfeld), eine weitere wird derzeit in Tangerhütte (Landkreis Stendal) aufgebaut. Damit ähneln die Paare einer Pflegefamilie, profitieren aber von der Einbindung ins Familienwerk.
Viele ehemalige Kinderdorfkinder haben trotz des schwierigen Starts ins Leben ihren Weg gemacht. Dagmar Hellfritsch weiß aus Erfahrung: "Über den Erfolg können wir nicht beim Auszug der Kinder abrechnen, sondern erst viel später."