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Bundestagswahl Gabriel: "Erdogan will nicht in die EU“

Sigmar Gabriel ringt im Wahlkampf um jede Stimme für die SPD. Vom Ergebnis hängt auch seine Zukunft als Minister ab.

Von Steffen Honig 19.09.2017, 01:01

Volksstimme: Sie haben sich mit einem derartigen Elan in Ihre neue Aufgabe als Außenminister gestürzt, dass man meinen könnte, es ist das schönste Amt, was Sie bisher hatten. Ist das so?
Sigmar Gabriel: Ämter, die man inne hat, muss man immer mit ganzer Kraft machen. Aber ich gebe zu: Außenminister Deutschlands zu sein ist natürlich eine tolle Aufgabe, aber auch nicht einfach. Die Welt ist in Unruhe, Nordkorea, Flüchtlingskrise, Hunger in Afrika, die blutigen Konflikte unmittelbar vor unserer Haustür. Da müssen wir Deutschen, aber auch wir Europäer uns mehr einbringen. Was es mir hilft: Ich treffe gerade im Ausland – zum Beispiel in Frankreich, aber auch in Griechenland, in der Türkei, in vielen anderen Ländern Menschen wieder, mit denen ich auch vorher als SPD-Vorsitzender oder als Wirtschaftsminister zusammen gearbeitet habe. Dieses Netzwerk kann ich jetzt nutzen.

Die krisengeschüttelte Welt ist ein schwieriges Terrain für einen deutschen Außenminister geworden. Das beginnt bei den Differenzen mit der EU-Nachbarschaft. Kann die Juncker-Rede zur Lage der Union kittend wirken?
Ich finde vor allem richtig, dass endlich ein soziales Europa entstehen soll. Denn niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt, wo immer der gewinnt, der die niedrigsten Löhne zahlt. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort: Das ist ein Prinzip, mit dem endlich diese schädliche Konkurrenz zu Ende ist.  Bislang gilt nur Wettbewerb im Binnenmarkt, ohne Regeln. Dabei bekommt meist nur der einen Auftrag,  der die niedrigsten Löhne und die schlechtesten sozialen Absicherungen hat. Denn der ist immer der billigste. Man kann aber mit rumänischen Löhnen in Magdeburg keine Miete bezahlen. Deshalb müssen auch für EU-Firmen die deutschen Lohn- und Sozialstandards gelten, wenn sie hier einen Auftrag bekommen wollen.  Und auch in Deutschland müssen wir Tarifverträge per Gesetz verbindlich für alle machen. Ich habe ja mehr als vier Jahre in Magdeburg gewohnt und bin oft im Mansfeld-Südharz-Kreis, weil die Familie meiner Frau dort lebt. Es ist wirklich beschämend zu sehen, wie schlecht manche Löhne gerade in Ostdeutschland sind, obwohl die gleichen Unternehmen in Westdeutschland weit bessere Gehälter zahlen, weil dort der Tarifvertrag gilt.

Die vorläufige Absage einer EU-Aufnahme an die Türkei liegt auf dem Kurs, den Deutschland eingeschlagen hat.  Allerdings haben sich Kanzlerin Merkel und SPD-Spitzenkandidat Schulz für einen sofortigen Stopp der Verhandlungen ausgesprochen. Ist das durchsetzbar?
Wie oft, sind die Interessen in der EU auch in dieser Frage heterogen und auch wirtschaftlich geprägt. Aber es rächt sich jetzt auch das Oberlehrergetue einiger Regierungskollegen. Das hat in der Vergangenheit zu so manchen allergischen Reaktionen bei unseren Nachbarn geführt. Dabei glaube ich, dass wir uns in der EU prinzipiell einig sind. Herr Erdogan will doch gar nicht in die EU. Martin Schulz hat nur ausgesprochen, was die ganz große Mehrheit der Deutschen fühlt und weiß.

Mit Ungarn und Polen hat die Bundesrepublik unter den EU-Ländern derzeit die größten Probleme, wegen Rechtsstaatlichkeit und verweigerter Kooperation in der Flüchtlingspolitik. Nun kommen bei Polen die Reparationsforderungen hinzu. Wie gehen Sie als Außenminister mit dem Vorstoß aus Warschau um?
Die Freundschaft zu Polen ist eines der größten Geschenke, das wir Deutschen erhalten haben. Das ist mir, das ist der Bundesregierung sehr bewusst. Wir blicken heute auf ein sehr eng gestricktes Netz an freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern und auch kommunal. Das fängt bei der Viadrina-Uni in Frankfurt/Oder an und hört beim Jugendwerk noch längst nicht auf. Meine Heimatstadt Goslar hat zum Beispiel sehr tiefe Beziehungen zum polnischen Brzeg. Das alles lassen wir uns nicht kaputt machen. Diese Verantwortung sieht, so hoffe ich, auch die polnische Regierung.

Um die Ukraine-Krise zu entschärfen, haben Sie europäische Hilfe beim Wiederaufbau angeboten, wenn der Minsker Vertrag erfüllt ist. Es sind jedoch keinerlei Fortschritte zu verzeichnen.
Für mich ist entscheidend, ob wir endlich einen Waffenstillstand in der Ost-Ukraine hinbekommen. Dafür habe ich dem russischen Präsidenten Putin vor einem halben Jahr vorgeschlagen, notfalls eine UN-Friedensmission dorthin zu schicken. Er hatte das bislang immer abgelehnt. Nun aber hat er diesem Vorschlag zugestimmt. Natürlich sind wir uns nicht in allen Punkten einig, wie diese Blauhelm-Mission der UNO aussehen soll. Aber Russland ist jetzt eine großen Schritt auf uns zugekommen. Wir sollten die Chance nutzen und sagen: Lasst uns darüber verhandeln, wie diese UN-Mission aussehen soll. Und wenn der Waffenstillstand damit zustande kommt, sollten wir beginnen, die Sanktionen gegen Russland Schritt für Schritt abzubauen und der Ukraine beim Wiederaufbau des Donbass Hilfe leisten. Wir brauchen einen neuen Anlauf in der Entspannungspolitik mit Russland. Jetzt haben die Russen die Tür geöffnet, wir dürfen sie nicht gleich wieder zuschlagen, sondern versuchen, diese weiter aufzumachen.

Die Russland-Sanktionen werden teils auch im Westen kritisch gesehen. Wann werden die Schranken fallen können?
Die Sanktionen waren wichtig, weil wir nicht einfach zuschauen konnten, wie Russland mit Gewalt Grenzen verschiebt. Gleichzeitig ist es unrealistisch zu glauben, dass man erst das gesamte Minsker Friedensabkommen umsetzen muss, bevor die Sanktionen aufgehoben werden. Sie sind schrittweise aufgebaut worden und sollten auch schrittweise abgebaut werden. Und einen ersten großen Schritt im Abbau der Sanktionen sollten wir mit einem echten Waffenstillstand verbinden. Damit auch die Russen sehen, dass es sich lohnt.

Ist eine entscheidende Rolle in der Nordkorea-Vermittlung, wie sie die Kanzlerin anstrebt, eine Nummer zu groß für Deutschland?
Ich war nicht sehr glücklich darüber, dass Angela Merkel das öffentlich angeboten hat. Jetzt ist eigentlich die Stunde der stillen Diplomatie. Wenn man zu laut darüber redet, kann es schnell sein, dass man das Gegenteil erreicht. Die Gefahr, die von der atomaren Bewaffnung Nordkoreas ausgeht, ist allerdings auch für uns in Deutschland und Europa riesig. Wenn Nordkorea sich mit seinem völkerrechtswidrigen Atom- und Raketenprogramm durchsetzt, dann wird das Schule machen. Andere werden versuchen, sich auch in den Besitz von Atomwaffen zu bringen. Auch in unserer Nachbarschaft. Dann leben wir in einer viel gefährlicheren  Welt, als zur Zeit der Ost-West-Konfrontation. Dann haben wir es mit vielen kleinen Atommächten zu tun. 
Ich bin der festen Überzeugung, dass man jetzt zwei Dinge machen muss: Wir müssen zum einen  den wirtschaftlichen Druck auf Pjöngjang erhöhen. Wir müssen zum anderen aber unsere diplomatischen Kanäle nutzen, in erster Linie in Richtung Russland und China, das den größten Einfluss auf Nordkorea hat. Ich habe am Sonntag in Peking unsere Haltung dazu deutlich gemacht. Gleichzeitig unterstützen wir den Ansatz des US-Außenministers, der im Fall des Verzichts auf Atomwaffen ein weitreichendes Angebot an Nordkorea gemacht hat: Keine Intervention, kein Regimewechsel, keine militärischen Operationen.

Die deutsche Flüchtlingspolitik kennzeichnet, die EU gegen Einwanderung abzuschotten und Auffanglager in Afrika zu errichten und zudem mit Milliardengaben wie an die Türkei den Flüchtlingsstrom zurückzuhalten. Außerdem sollen die Fluchtursachen bekämpft werden, wie muss man sich das konkret vorstellen?
Afrika verdoppelt in den kommenden Jahrzehnten seine Bevölkerung. Jeder weiß doch: wenn die Lebensbedingungen dort nicht besser werden, wird keine noch so hohe Mauer um Europa die Menschen davon abhalten, sich auf die gefährliche Reise nach Europa zu machen. Deshalb müssen wir nicht die Rüstungsausgaben verdoppeln, wie Frau Merkel und Herr Trump das wollen, sondern die Entwicklungshilfe. Und wir müssen die konsequenter zurückschicken, die bei uns nicht auf Dauer bleiben können. Für alle anderen, die bei uns Schutz und Aufnahme finden, braucht es Sprachausbildung, Bildung und Ausbildung.
Mindestens genauso wichtig ist es aber, unserer eigenen Bevölkerung zu zeigen, dass hier niemand vergessen wird. Zu oft höre ich den Satz: „Für die Flüchtlinge habt ihr Geld, aber für uns nicht". Deshalb war es ein großer Fehler von Angela Merkel und der CDU/CSU, die Mindestrente zu verhindern und kein Geld für die Sanierung der Schulen bereitzustellen. Denn Geld ist da. Die FDP will es für Steuersenkungen für Besserverdienende vergeuden, die CDU/CSU für die Verdoppelung der Rüstungsetats. Wir Sozialdemokraten wollen Schulen sanieren, die Altersarmut bekämpfen, eine Mindestrente einführen und vor allem auch den ländlichen Gemeinden mehr Geld für ihre Bürgerinnen und Bürger geben.

Die Vorbehalte vieler Menschen gegen die Zuwanderung sollen der AfD den Weg in den Bundestag bahnen. Was hat die Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik falsch gemacht?
Es war richtig, dass wir uns an das Grundgesetz gehalten haben und den Flüchtlingen Asyl gegeben haben, denen unsere Hilfe zusteht. Mit Blick auf uns selbst habe ich immer dafür plädiert, dass wir uns besonders um die kümmern, die das Gefühl haben, dass wir sie vergessen. Ich habe deshalb die Verdreifachung des sozialen Wohnungsbaus und eine Mindestrente gefordert. Das hat der CDU-Finanzminister „erbarmungswürdig" genannt.  Was soll einem zu so viel Starrsinn und Ignoranz noch einfallen? Für mich ist klar, dass wir eine doppelte Integration brauchen:  Wir müssen die integrieren, die als Flüchtlinge zu uns kommen und die zusammenhalten, die bereits hier leben. Das haben wir vielleicht zu wenig getan.Trotzdem ist das kein Grund, eine fremdenfeindliche Partei wie die AfD zu wählen. Es wäre eine Schande, wenn nach der Wahl das erste Mal seit 70 Jahren wieder Nazis im Reichstag sprechen.

Sie kennen den Osten aus dem Effeff, waren einige Jahre in Magdeburg zu Hause. Wie erklären Sie sich, dass gerade in Ostdeutschland Kanzlerin Merkel und auch SPD-Spitzenleuten auf Wahlkundgebungen blanker Hass entgegenschlägt?
Im Osten sind nach der Wende viele Strukturen zusammengebrochen, die für das Zusammenleben wichtig sind – von der Kinderbetreuung über Arbeitsplätze bis zu Sportvereinen und Freizeitangeboten.  Vielleicht sind die Westdeutschen und einige westdeutsche Politiker nach der Wende hier auch  zu besserwisserisch und elitär aufgetreten. Man muss aber auch sagen: Die krassen Störer sind eine Minderheit. Mitteldeutschland ist so etwas wie mein zweites Zuhause, auch weil meine Frau von hier kommt. Von ihr habe ich viel über die Menschen und Ostdeutschland gelernt.

Ihre Partei, die SPD, macht seit Jahresanfang ein Wechselbad durch. Dem Schulz-Hype folgten nach Schlappen bei Landtagswahlen nur noch ernüchternde Umfrageergebnisse. Woran liegt es, am Kandidaten?
Martin Schulz war der beste Kanzlerkandidat für die SPD und er ist der bestmögliche Kanzler für Deutschland. Mein Motto war sowieso immer: Don’t believe the hype. Man sollte skeptisch sein, wenn man plötzlich von allen Seiten hochgejubelt wird und man sollte skeptisch sein, wenn man von allen abgeschrieben wird. Viele Wähler haben sich noch gar nicht entschieden.

Nach dem Stand der Dinge könnten Sie nur Außenminister oder überhaupt Bundesminister bleiben, wenn sich die SPD wieder in den Schoß einer Koalition mit der Union begibt. Behagt Ihnen diese Vorstellung?
Ich habe es schon mehrfach gesagt, natürlich sind Große Koalitionen keine Wunschkonstellation, denn sie stärken die politischen Ränder. Wie es nach dem 24. September weitergeht, entscheiden die Wähler. Wichtig sind am Ende die Kreuze in der Wahlkabine und nicht die Klicks bei Online-Umfragen. Ich werde jedenfalls bis zum Ende kämpfen – und zwar für die SPD, nicht für einen Posten.

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