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Gedenktag Todesschüsse am Polizeipräsidium

Der damalige Bezirk Magdeburg war ein Zentrum des Volksaufstand in der DDR. Die Arbeiter und Bauern kämpften für Verbesserungen.

Von Steffen Honig 13.06.2018, 01:01

Magdeburg l Die Nachricht vom Berliner Aufstand der Bauleute am 16. Juni zog auch die Menschen zwischen Magdeburg und Wernigerode in ihren Bann. Am folgenden Tag entlud sich überall die Wut, wie eine Chronologie der Behörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) auflistet.

Das Kampfsignal kam am 17. Juni aus dem Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann": Um 7.30 Uhr legten die Arbeiter der Formerei die Arbeit nieder. Sie formierten sich zum Demonstrationszug. Der Pulk wuchs auf 5000 Menschen an, die gesamte Frühschicht streikte. Die Protestierenden teilten sich auf und zogen zum Dimitroff-Werk, zum Karl-Liebknecht-und zum Karl-Marx-Werk. Viele Kollegen schlossen sich an. Etwa 10.000 Arbeiter marschierten mit dem Ruf „Magdeburg folgt den Berlinern" ins Zentrum. Der Demonstrationszug umfasste bereits 20.000 Menschen. Am Hauptbahnhof wurden Transportpolizisten entwaffnet.

Gegen 11 Uhr vereinigten sich mehrere Demonstrationszüge im Stadtzentrum. Die Aufständischen besetzten das Rathaus, die Bezirksleitungen von SED und FDJ sowie dem Bezirksvorstand der Gewerkschaft FDGB. Gegen 11 Uhr drangen Demonstranten in das Gebäude der damaligen SED-Zeitung „Volksstimme" ein. Dort verprügelten mehrere Arbeiter Redakteure.

Die Streikenden besetzten Fernmeldeamt, Stadtfunk und Hauptbahnhof. Dort wurden mehrere Personenzüge an der Weiterfahrt gehindert. Aus zwei Zügen mit Gefangenentransportwagen befreiten die immer gewalttätigeren Massen die Häftlinge.

Gegen 15.30 Uhr kam es zum Sturm auf die Untersuchungshaft am Moritzplatz. Über 200 Häftlinge kamen frei. Insgesamt wurden am 17. Juni im Bezirk Magdeburg 319 Gefangene befreit. Die Sicherheitskräfte griffen 277 von ihnen später wieder auf, nur wenigen gelang die Flucht in den Westen.

Zu den schwersten Gewalt­exzessen am 17. Juni kam es am Komplex Halberstädter Straße/Sudenburger Wuhne. Auf dem Areal befanden sich die Strafvollzugsanstalt Sudenburg, die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit, das Bezirksgericht und die Bezirksbehörde der Volkspolizei (BDVP). Im Volksmund hieß das Gebäude der BDVP weiterhin Polizeipräsidium (heutiges Landes-Innenministerium). Zwischen 15  000 und 20  000 Menschen waren hier am Vormittag zusammengeströmt. Weil die Tore verschlossen waren, drangen Demonstranten vom angrenzenden Bahngelände auf das Gelände vor. Dabei entwaffneten sie zahlreiche Polizisten.

Um 10.30 Uhr stürmten Demonstranten das Polizeipräsidium. Dabei fielen die ersten Schüsse. Untersuchungen ergaben, dass einige Volkspolizisten wohl die Nerven verloren hatten. Einige Demonstranten erwiderten das Feuer aus den erbeuteten Waffen.

Bei Kämpfen im Umkreis des Polizeipräsidiums wurden drei Zivilisten, zwei Polizisten und ein Stasi-Offizier getötet. Daneben gab es etliche Verletzte. Schließlich besetzten Streikende das Gericht und die BDVP. Nur in die beiden Haftanstalten drangen die Demonstranten wegen heftigen Gewehrfeuers nicht ein. Nach 12 Uhr trafen zwei sowjetische Panzer ein, Rotarmisten bereinigten die Lage. Auch im übrigen Stadtgebiet wurde der Aufstand unterbunden.

Um 14 Uhr verhängte die Besatzungsmacht den Ausnahmezustand. Die sowjetischen Truppen bekamen die Lage aber erst am Nachmittag unter Kontrolle. Armee-Einheiten besetzten wichtige Großbetriebe, zentrale Staats- und Parteigebäude und Verkehrsknotenpunkte. Magdeburg war mit rund 50.000 Demonstranten eine Protesthochburg in Ostdeutschland.

Nach 21 Uhr galt eine Ausgangssperre. Sowjetische Militärtribunale übernahmen die Bestrafung tatsächlicher oder vermeintlicher Rädelsführer. Sie verurteilten am 18. Juni die Magdeburger Herbert Stauch und Alfred Dartsch zum Tode. Sie wurden standrechtlich erschossen. Auch Ernst Jennrich wurde später nur auf Grund von Zeugenaussagen im Oktober 1953 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Das Magdeburger Beispiel wirkte trotz der Niederlage. Im Elektromotorenwerk Wernigerode kündigten die Arbeiter für den 18. Juni einen Streik an. Der Direktor wollte dies durch Einberufung einer Belegschaftsversammlung verhindern. Dabei bekundete eine etwa 40 Mann starke Abordnung der Beschäftigten auf Transparenten ihre Solidarität mit den Streikenden in Ost-Berlin. Sie planten mit Arbeitern anderer Betriebe Wernigerodes und umliegender Städte wie Ilsenburg einen langen Marsch zur innerdeutschen Grenze nach Bad Harzburg, um die Grenzbefestigungen zu beseitigen.

Dann herrschte jedoch auch in Wernigerode der Ausnahmezustand. Die Sowjetarmee besetzte das Werk. Der Streik endete dennoch erst am 19. Juni. Es kam dabei zu mehreren Festnahmen.

Staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen wurden in den Junitagen 1953 auch in Halberstadt, Gommern und Calbe gestürmt. In mindestens 83 Orten des Bezirks Magdeburg protestierten die Menschen gegen die schlechten Lebensbedingungen.

In den Dörfern liefen die Bauern vor allem Sturm gegen die Kollektivierung. Hier war der 17. Juni durchaus ein Erfolg: Von den 613 Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften im Bezirk Magdeburg waren 27 bis zum September 1953 wieder aufgelöst.