Kliniken Jeder macht alles
Das Gesetz schreibt für schwierige Operationen eine Mindestfallzahl vor. Oft wird die nicht eingehalten - auch in Sachsen-Anhalt.
Magdeburg l Das Knie schmerzt, Treppensteigen wird zur Qual. Jedes Jahr humpeln Tausende zum Arzt. Diagnose: Abgenutzte Gelenke oder Entzündungen. Die Lösung: ein neues Kniegelenk. Pro Jahr legen sich in Sachsen-Anhalt mehr als 4000 Leidende für eine Knie-Endprothese unters Messer. Für die Kliniken ist das auch wirtschaftlich wichtig. Sie müssen den Großteil der Kosten selber schultern. 7639 Euro gibt es für jeden Eingriff von den Krankenkassen. Und weil das so ist, können sich die Patienten vor Anbietern kaum retten.
Gleich 28 Kliniken im Land offerieren diese Knie-OP. Das Problem: Etliche Häuser kommen daher auf nur wenige Fälle. Dabei sind sich nahezu alle Mediziner einig: Übung macht den Meister. Hohe Fallzahlen sind die Basis für eine hohe Qualität. Für schwerste Eingriffe - wie Knie, Speiseröhre, Lebertransplantation - hat der Bund daher „Mindestmengen“ gesetzlich vorgegeben. Fürs Kniegelenk gilt: 50 Operationen pro Klinik und Jahr. Das ist jedoch die Unterkante. Die Weiße Liste der Bertelsmann-Stiftung empfiehlt daher Kliniken mit einer dreistelligen OP-Zahl. Der deutsche Schnitt liegt bei etwa 200.
Etliche Häuser in Sachsen-Anhalt kommen aber der roten Linie sehr nahe - wie die aktuelle Statistik von 2017 zeigt: Seehausen 53, Bergmanns-trost Halle 56, Haldensleben 58, Staßfurt 60, Halberstadt 63. Zum Vergleich: Die Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg setzen jedes Jahr zwischen 500 und 600 Kniegelenke ein. Quedlinburg schafft 300, ebenso die Orthopädie-Spezialklinik Vogelsang.
Verlässt ein angesehener Facharzt eine Klinik, rauschen die Zahlen schnell unter die gesetzliche Vorgabe - weil es immer schwerer wird, Nachfolger zu finden. Selbst ein Maximalversorger wie das Städtische Klinikum Magdeburg ist davor nicht gefeit. Dort wechselte ein ganzes Team vom Arzt bis zur Schwester zum benachbarten Marienstift. Die Folge: Die Zahl der Knie-OPs sackte im Klinikum von 125 (2015) auf magere 11. Und damit unter die rote Linie.
Sachsen-Anhalts Barmer-Landesgeschäftsführer Axel Wiedemann sagt: „Es ist ja gut, wenn Patienten die freie Wahl zwischen verschiedenen Anbietern haben. Aber: Wir haben Bereiche, die überzeichnet sind.“
Vor allem bei seltenen, aber hochkomplexen Operationen wäre es wichtig, dass Anbieter ihre Kräfte bündelten. Etwa beim Speiseröhren-Krebs. Etwa 100 Fälle gibt es im Jahr. Das Gesetz verlangt mindestens 10 Operationen. Gleich 15 Kliniken im Land operieren. Gleich zehn Häuser erreichen nicht die Mindestvorgaben.
Oder Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Gut 300 Patienten werden im Land jährlich operiert. Doch anstatt zwei, drei Zentren zu bilden, übernehmen gleich 17 Kliniken im Land diesen Eingriff. Entsprechend dürr sind die Zahlen. Drei Häuser erreichen die Vorgaben nicht, sieben Klinken gerade mal so.
Weißenfels kam 2017 auf eine OP. Dort gab es einen Chefarztwechsel. Kleineren Kliniken fällt es besonders schwer, angesichts des Fachkräftemangels die Leistung konstant zu halten. Selbst innerhalb einer Stadt können sich Kliniken nicht einigen. In Halle operieren gleich vier Häuser Bauchspeicheldrüsen. Die Uniklinik (47 OPs), die Krankenhäuser Martha-Maria (23), St. Elisabeth (17) und Diakonie (13). Zum Vergleich: Die Uniklinik Magdeburg kommt auf 50 bis 100 Eingriffe im Jahr.
Dabei ist das Klein-Klein für Patienten alles andere als gut. Das zeigt eine großangelegte Studie der Freien Universität Berlin. Wissenschaftler untersuchten 25 verschiedene Eingriffe (von Herzinfarkt bis Knie) in deutschen Kliniken in den Jahren 2009 bis 2014. Für die meisten Krankheiten gilt: Je weniger in einer Klinik operiert wird, desto höher das Risiko von Komplikation und Tod.
Beispiel Bauchspeicheldrüse: In Kliniken mit wenigen Operationen liegt die Sterberate bei zwölf Prozent. Untersucht wurden knapp 7000 Fälle. In Häusern mit mehr als 50 Operationen halbiert sich die Rate fast – nämlich auf 6,4 Prozent. Analysiert wurden in den großen Kliniken ebenfalls etwa 7000 Fälle. Studien-Leiter Professor Thomas Mansky sagt der Volksstimme: „Spezialisierte Medizin gehört in spezialisierte Zentren.“
Die Studie belegt auch die Zersplitterung der deutschen Kliniklandschaft. Mehr als 550 Häuser operieren Bauchspeicheldrüsen. Gut 400 schaffen nur zehn oder noch weniger Eingriffe im Jahr. Manche Ärzte halten dagegen: Die OP-Zahl pro Klinik sage nicht viel - nützlich sei allein die Zahl pro operierendem Arzt. Mansky meint: „Prinzipiell wäre das nicht verkehrt und im Interesse des Patienten – doch das verhindert in Deutschland der Datenschutz.“ Er plädiert daher für die bisherige Zählweise. Denn: „Entscheidend für den Erfolg ist nicht allein der operierende Arzt, sondern das ganze Team vom Arzt bis zum Pfleger.“
Jeder macht ein bisschen. Das Problem ist beileibe kein sachsen-anhaltisches. Das Science Media Center Köln (SMC) und die Bertelsmann-Stiftung analysierten die jüngsten, aus dem Jahr 2017 stammenden Qualitätsberichte der Krankenhäuser in Deutschland. Erschreckendes Resultat: 1152 Kliniken bieten bundesweit komplexe Operationen und Behandlungen an – 458 verfehlten die gesetzlichen Mindestvorgaben. Das sind fast 40 Prozent. In Sachsen-Anhalt erreichten 20 Kliniken eine der Mindestmengen nicht. Das ist die Hälfte der Anbieter. Und damit das drittschlechteste Ergebnis bundesweit.
Natürlich gibt es auch mal Notfälle. Wie in Stendal: Bei einer Magen-OP fiel auf, dass der Krebs auch die Speiseröhre erreicht hatte. Der Chirurg entfernte den Tumor also auch dort – daher kam die Klinik auf nur eine Speiseröhren-OP. Aber das sind die Ausnahmen. Im Kern ist eine zerfaserte, unter hohem Erfolgsdruck stehende Kliniklandschaft an der Lage schuld. Für eine Bauchspeicheldrüsen-OP bekommt ein Krankenhaus in Sachsen-Anhalt 17.400 Euro. Zwar ist auch der Aufwand hoch. Aber es geht auch um Renommee. Und Ehrgeiz.
Politik, Fachleute und Kassen wollen die Klinik-Kleinstaaterei zurückdrängen. Ein Weg: Die Mindestmengen für schwierige Eingriffe werden erhöht. Bei Speiseröhre und Bauchspeicheldrüse fordern Fachleute mindestens 20 bis 30 Operationen. Beim Knie 100. Der Spitzenverband der Kassen (GKV) hat für die Speiseröhren-OP sogar eine Untergrenze von 60 vorgeschlagen. Die Krankenhausgesellschaft will hingegen flexible Grenzen.
Außerdem soll der Katalog der Mindestmengen-Eingriffe erweitert werden. Die Kassen wollen solche Vorgaben auch für Knie-Teilprothesen. Zudem dürften künftig auch Brust- und Lungenkrebs-Behandlungen aufgenommen werden. In den nächsten Monaten wird darüber der Gemeinsame Bundesausschuss beraten - das oberste Gremium aus Ärzten und Kassen. Das letzte Wort hätte der Bundestag als Gesetzgeber. Im Magdeburger Sozialministerium sind sich Fach-Beamte aber sicher: „Veränderungen kommen 100-prozentig.“
Gehen die Vorgaben hoch, wäre es in vielen Kliniken vorbei mit komplexen Operationen. Einige Träger tüfteln schon an Auswegen: Die Kliniken bleiben vor Ort erhalten – bieten aber schwere Eingriffe nur noch an ein oder zwei Standorten an. Patienten müssten dann längere Wege fahren. Hätten aber die Aussicht auf eine höhere Qualität.
Obgleich die gesetzlichen Vorgaben seit 15 Jahren existieren, gab es bislang kaum Sanktionen. Ausnahmen und Kulanz bestimmten das Geschäft. Das ändert sich. Seit diesem Jahr müssen die Kliniken im Voraus ihre Operationen planen und ihre Zahlen bei den Kassen vorlegen. Bis Ende August meldeten 30 Kliniken ihre Mindestmengen-Eingriffe für 2020 an. Dem Vernehmen nach hat ein halbes Dutzend Kliniken kein grünes Licht bekommen, weil die Zahlen nicht fundiert erschienen. Das hieße: Operieren sie dennoch, bekämen sie das nicht mehr von den Kassen bezahlt. Nun können die Kliniken Widerspruch einlegen. Bis Ende des Monats läuft die Frist. Meinung