Landtagswahl 2021 AfD-Spitzenkandidat Oliver Kirchner: Der Heimattreue am rechten Rand
Am 6. Juni 2021 wird ein neuer Landtag in Sachsen-Anhalt gewählt. Die Volksstimme stellt die Spitzenkandidaten der im Landtag vertretenen Parteien vor. Heute: Oliver Kirchner von der AfD.
Magdeburg - Als Oliver Kirchner anfängt zu singen, ist sein kahler Kopf im Scheinwerferlicht schweißperlenfrei. Der Mann macht das nicht zum ersten Mal, das ist klar.
Mit rauer Stimme und ohne große Miene schmettert er einen Song der Band Keimzeit: „Wir legen ab und fahr’n nach Singapur, mit ’nem Schiff aus schäbigem Holz ...“. Souverän spielt er dazu die Gitarre, natürlich trägt er wie so oft Schlips, auch zu diesem Late-Night-Show-Besuch bei den Hengstmann-Brüdern in Magdeburg.
Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Wahl, das Kabarett-Duo hat Politiker aus allen größeren Parteien eingeladen. Kirchner singt in seinem Song beim Gastauftritt: „Und das Kommando hat ein deutscher Käpten, sein linkes Bein hat er im Krieg verloren; lange schon, keine Heimat mehr, er will in Singapur ein Leben von vorn ...“
Der Heimatbegriff steht im Zentrum des AfD-Landtagswahlkampfs. Ihr Wahlprogramm ist überschrieben mit: „Alles für unsere Heimat!“ Und Kirchner soll es verkaufen. Ein Parteirechter, der seine Heimatstadt Magdeburger nie für längere Zeit verlassen hat. Mit dem Schiff nach Singapur auswandern? Eher nicht sein Ding. Doch das Szenario des Heimatverlustes als politisches Motiv ist bei Kirchner kaum zu unterschätzen.
AfD-Politiker Kirchner hat im Vergleich zu André Poggenburg abgerüstet in der Wortwahl nach außen
Im Landtag sehen ihn viele politische Gegner aus dem linken Lager als Rechtsextremen. Der 55-Jährige ist Unterzeichner der Erfurter Resolution, dem Gründungspapier des sogenannten Flügels. Die Parteiströmung löste sich im vergangenen Jahr offiziell auf, nachdem der Verfassungsschutz sie als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ einstufte.
Allerdings wird der AfD-Politiker im Parlament unterschiedlich wahrgenommen. Einige sehen ihn als Scharfmacher seiner Partei. Andere beschreiben ihn als eher zurückhaltend in der Ausschussarbeit.
In der Wortwahl hat Fraktionschef Kirchner im Vergleich zu seinem Vorgänger André Poggenburg tatsächlich abgerüstet. Poggenburg, der die Landtagsfraktion bis 2018 führte, hatte etwa politische Gegner als „Wucherung am deutschen Volkskörper“ bezeichnet, die Türkische Gemeinde in Deutschland beschimpfte er zum Aschermittwoch als „Kümmelhändler“ und „Kameltreiber“. Wenig später war Schluss für Poggenburg, den Draht zur Fraktion sowie zu einigen Kreisverbänden soll er schon vorher verloren haben.
Sein Nachfolger Kirchner machte daraufhin sogleich klar, er sehe nur taktische Differenzen zu Poggenburg, wenn dieser etwa von „Volkskörper“ spreche. Intern war Kirchner allerdings weniger zimperlich bei der Wortwahl. In einer internen WhatsApp-Gruppe offenbarte er ein arg gestörtes Verhältnis zur Presse: „Irgendwann sollte man Herrn Richter vom Deutschlandfunk den Schlips mal etwas enger ziehen“, schrieb er.
Auch in diesem Wahlkampf fühlt er sich von Medien unfair behandelt. Zwei Interviews der Volksstimme mit dem Spitzenkandidaten enden mit Appellen zur Objektivität. Eine Anfrage zur Begleitung bei einem Wahlkampfauftritt lehnte Kirchner ab. Für ihn sei es dann schwieriger, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, sagt er.
Wenn Kirchner im Landtag redet, wirkt das oft bemüht, er schaut viel aufs Manuskript. Scharf sind seine Sätze allerdings, vor allem beim Thema Zuwanderung. Im Jahr 2019 sagt er im Parlament: „Die illegale Einwanderung aus sicheren Drittstaaten nimmt bereits derartige Dimensionen an, dass die Identität unseres Staatsvolkes dauerhaft gefährdet wird.“
AfD Sachsen-Anhalt will Geburten statt Zuwanderung
Die vermeintliche Bedrohung seiner Heimat durch Zuwanderer treibt Kirchner um. Für ihn ist es eine Horror-Vorstellung, würde es in Magdeburg so kommen wie in vielen westdeutschen Großstädten. Er nennt Offenbach als Beispiel. In der hessischen Großstadt haben zwei von fünf Einwohnern keinen deutschen Pass.
Kirchner wohnt in Magdeburg-Sudenburg. Er sagt, dort kämen immer mehr Läden von Ausländern hinzu. Er sehe es kritisch, wenn sich „Parallelgesellschaften“ bildeten. Die gebe es bereits im Magdeburger Norden, seinem Wahlkreis. „Rotationseuropäer“ nennt er die dort lebenden Sinti und Roma. Kirchner hat dort bei der Landtagswahl 2016 hauchdünn das Direktmandat geholt.
Dazu passt, dass der Magdeburger in diesem Wahlkampf immer wieder den Grünen-Politiker Sebastian Striegel zitiert, der einst während einer Diskussion auf Twitter „Zuwanderung bis zum Volkstod“ gefordert hatte. Das war im Jahr 2015, Striegel hat sich dafür längst entschuldigt. Kirchner kann sich darüber immer wieder empören. Denn es ist politisch das genaue Gegenteil von dem, was er will.
Statt Zuwanderung will seine Partei mehr Geburten im Land. Die AfD sieht im demographischen Wandel laut Wahlprogramm eine „Beschönigung“ für ein „schleichendes Aussterben der deutschen Bevölkerung“.
Schon länger gilt die AfD Sachsen-Anhalt als Landesverband mit relativ starker völkisch-nationaler Ausrichtung. Dabei liefert Kirchner eher weniger das theoretische Rüstzeug. „Kirchner ist kein Ideologieproduzent in der AfD, er ist eher der Pragmatiker“, sagt der Rechtsextremismusforscher David Begrich. Er sieht die Partei in den vergangenen Jahren weiter nach rechts gerückt. „Kirchner hat nicht erkennen lassen, dass er dem Rechtsruck der AfD widerspricht“, betont er.
Die AfD Sachsen-Anhalt im Visier des Verfassungsschutzes
Auch der Verfassungsschutz hat den Landesverband stärker ins Visier genommen: Im Januar war bekannt geworden, dass die Landespartei als rechtsextremer Verdachtsfall geführt werde. Die AfD klagte dagegen.
Der Spitzenkandidat fühlt sich dabei an „tiefste Stasizeiten“ erinnert. Etwa an seinen alten Freund, mit dem er, der Jimi-Hendrix-Fan Kirchner, einst im Duo Gitarre spielte und den die Stasi damals verfolgt habe. Auch über den heutigen AfD-Spitzenkandidaten gibt es nach eigener Aussage eine Stasi-Akte. Darin werde er als „negativ dekadenter Jugendlicher“ bezeichnet, berichtet er.
In Magdeburg vom Kfz-Mechaniker zum AfD-Politiker
Aufgewachsen ist Kirchner in Magdeburg-Stadtfeld. In den 80er Jahren macht er eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, bis zur Wende arbeitet er in dem Beruf. Als die Mauer fällt und viele rübermachen, bleibt der heimatverbundene Magdeburger vorerst. Erst Monate später zieht es ihn in den Westen, er fährt Verwandte im Ruhrgebiet besuchen. Heute sagt er, es sei nicht alles schlecht gewesen in der DDR. Aber als die Mauer fiel, sei er schon froh gewesen. Zum Arbeiten fährt er dann in den 90ern viele Jahre in den Westen, arbeitet in einer Werkstatt in Hannover. 1996 lässt er sich zum Automobilkaufmann weiterbilden. Bis zum Einzug in den Landtag ist Kirchner Autohändler.
Parteipolitisch aktiv wird der Handwerker und Kaufmann erst 2013, dem Gründungsjahr der AfD. Er geht zum Stammtisch der Partei in Magdeburg, vor allem wirtschaftspolitische Themen wie die Eurokrise und die Abschaffung der D-Mark hätten ihn damals bewegt, sagt er rückblickend. Auch bei Pegida-Kundgebungen sei er „sehr oft“ dabei gewesen.
Auf den Fluren des Landtags von Sachsen-Anhalt grüßen ihn nicht alle Abgeordneten
In der Partei steigt er schnell auf. 2015 wird er stellvertretender Vorsitzender im Kreisverband Magdeburg, 2016 folgt der überraschende Direkteinzug in den Landtag. Dort ist Kirchner AfD-Sprecher für Arbeit, Soziales und Integration, bis ihn die Fraktion nach zwei Jahren zu ihrem Vorsitzenden macht. Selbst politische Gegner sehen die AfD-Landtagsfraktion seitdem stärker geeint.
Gegrüßt wird Kirchner auf den Fluren des Landtags nicht von allen. Henriette Quade, Abgeordnete der Linken, begründet ihre Verweigerung mit den Worten: „Ich grüße keine Rassisten.“
Persönlicher Referent mit Neonazi-Vergangenheit
Personell unverändert geblieben ist in der Landtagsfraktion der Posten des persönlichen Referenten des Vorsitzenden. Das macht weiterhin derselbe Mann, laut einem Bericht der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein ehemaliger Kader der verbotenen Neonazi-Organisation Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ).
Schon Poggenburg sah in dem Engagement seines Referenten bei der HDJ keinen Grund für einen Wechsel. So ist es auch bei Kirchner. Laut MDR hat Kirchner darauf angesprochen kürzlich gesagt, sein Referent habe „heute – und wahrscheinlich auch damals – immer zur freiheitlich demokratischen Grundordnung gestanden“. Der Verein wurde 2009 vom Bundesinnenminister verboten. Er steht auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD.
Der frühere brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Andreas Kalbitz, ebenfalls ein „Flügel“-Mann, wurde im vergangenen Jahr aus der Partei geworfen, auch weil er seine frühere Mitgliedschaft bei der HDJ verschwiegen hatte. Kirchner hält den Rauswurf bis heute für falsch.