Leseranwältin Gute Reportagen bieten Auswahl an Sichtweisen
Zur Geschichte der DDR gehören 900 Kinder aus Mosambik. Sie sollten ab Anfang der 80er Jahre in der „Schule der Freundschaft“ (SdF) in Staßfurt eine Schul- und Berufsausbildung erhalten, um später daheim beim Aufbau zu helfen. Eine der Schülerinnen von damals steht im Mittelpunkt der Titelreportage „Fremde Heimat“ in unserem Wochenendmagazin am 6. April. Der Autor zeichnet unter anderem nach, wie sehr das Mädchen seine Chance auf ein besseres Leben nutzen wollte, auch zu den Klassenbesten gehörte, eigentlich aber von einem Medizinstudium geträumt hatte.
Dazu schrieb uns nun ein Leser, der früher als Lehrer im Fernsehwerk Staßfurt mit SdF-Schülern zu tun hatte. Der Bericht sei korrekt, aber, so gibt er zu bedenken, dennoch einseitig. Er habe nie den Eindruck gehabt, dass irgendwer den Beruf zwangsweise erlerne, alle seien sehr interessiert und engagiert gewesen.
Wer hat in diesem Punkt recht, die ehemalige Schülerin oder der ehemalige Lehrer? Sehr wahrscheinlich: beide. Die Geschichte im Wochenendmagazin ist ein gutes Beispiel für das, was die journalistische Darstellungsform der Reportage ausmacht. Sie gilt vielen als eine Königsdisziplin, besonders anspruchsvoll deshalb, weil sie zwischen den subjektiven und den nachrichtlichen Textformen angesiedelt ist. Die Reportage stellt persönliches Erleben in den Fokus; das individuelle Schicksal soll stellvertretend zwar nicht für alle – das wäre nicht möglich – aber doch für viele andere Menschen stehen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Subjektive Eindrücke müssen als solche im Text klar erkennbar sein. Zugleich soll der Artikel nachprüfbar korrekte Fakten transportieren, die Dinge ins „große Ganze“ einordnen und eine über den Einzelfall hinausweisende Thematik anhand des individuellen Beispiels besser nachvollziehbar machen. Eine Reportage bietet eine Auswahl an Sichtweisen auf ein Thema an. Was sie nicht leisten kann: Die einzig mögliche, absolute Wahrheit verkünden – wer wüsste auch, wie diese aussieht?