DDR-Unrecht Lesung in einer Schule läuft aus dem Ruder
Stendal l Eine Lesung zum DDR-Unrecht an einer Schule in Stendal löst durch verklärende Äußerungen einer Lehrerin eine Lawine aus. Der Vorfall wird durch einen "Zeit"-Artikel bundesweit bekannt. In der Stadt beginnt eine kontroverse Diskussion: Über das Leben in der DDR, den heutigen Umgang damit und die Aufarbeitung im Unterricht.
Mehr als 400 Schulen hat Roman Grafe bei seinen Lesungen schon besucht. Der Autor und Filmemacher verließ im Januar 1989 im Alter von 20 Jahren die DDR. Oft liest er aus seinem Buch "Die Grenze durch Deutschland". So auch im vorigen Jahr am 20. November in der Comenuis-Sekundarschule in Stendal.
Den Zehntklässlern trägt er den Text "Vorbildlicher Grenzdienst" vor. Eine Geschichte von drei jungen Thüringern, die 1964 kurz vor ihrer Flucht von ihrem Quartiergeber verpfiffen werden. Ein Grenzsoldat feuert auf den Ältesten der Gruppe fünf Schüsse ab. Der 31-Jährige "bricht sofort zusammen, drei Meter vor dem Schützen", liest der Autor vor.
Es ist an diesem Tag Grafes zweite Lesung an der Schule, finanziert von der Landeszentrale für politische Bildung. Fünf Minuten vor Ende der Stunde meldet sich eine Lehrerin zu Wort. Grafe schildert die Szene so: ",Ihr Vortrag war nicht objektiv, Herr Grafe! Sie haben nur subjektiv berichtet.` Und an die Schüler gewandt: ,Fragt doch heute mal eure Eltern, wie es in der DDR wirklich war!` Ob sie ihren Vorwurf belegen könne, frage ich. ,Ja. Ich habe mich wohlgefühlt in der DDR`, lautet ihr Argument. ,Auch unser Besuch aus Hamburg kam jedes Jahr gern nach Stendal. Und Sie haben heute die DDR schlechtgemacht. Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln hält, passiert einem nichts.`"
Der Autor sagt, dass er diese Stunde nicht so habe stehen lassen wollen. Er sucht das Gespräch mit der Schulleitung. Über den Dialog gibt es zwei Versionen. Schulleiterin Heidemarie Henning erklärt der Volksstimme, dass sie ein Gespräch vermitteln wollte. Roman Grafe betont, er erwarte eine schriftliche Klarstellung der Lehrerin. Es gibt drei Telefonte der beiden, aber keine Einigung. "Ablenken, ausweichen, beschwichtigen", kritisiert Grafe das Verhalten der Schulleitung und kündigt eine Veröffentlichung an. Henning wiederum hat "diese Drohung" vom ersten Gespräch an wahrgenommen.
Der Text erscheint am 23. Januar in einer Auflage von mehr als einer halben Million Exemplaren in der Wochenzeitung "Die Zeit". Die Stendaler Volksstimme greift das Thema auf, zitiert aus dem Artikel, schildert den Fall, spricht mit dem Autor und der Schulleiterin.
Die Darstellungen wühlen auf. Seit zwei Wochen melden sich die Leser der Lokalausgabe zu Wort. Die Bandbreite der Reaktionen reicht von leidenschaftlicher Anerkennung bis radikaler Ablehnung. Sie gehen per Brief, Fax, Mail oder die sozialen Netzwerke im Internet bei der Lokalredaktion ein und füllen inzwischen viele Zeitungsspalten. Einige Autoren sind erst in der Wendezeit auf die Welt gekommen, andere sind älter als 80 Jahre.
Etliche stoßen sich an Grafes Darstellung, "dass man auch in der Diktatur die Wahl hat, ob man als Mittäter oder Mitläufer die Machthaber unterstützt oder versucht, sich weitestgehend zu verweigern". Ein Leserbriefschreiber nennt diese Einteilung "eine Beleidigung für Millionen von Menschen".Grafe ignoriere offenbar "die vielen hunderttausend DDR-Bürger, die, statt überzusiedeln, in die Kirchen und anschließend, auch in Stendal, auf die Straße gegangen sind. Sie wollten ihr Land nicht auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, sondern es von innen heraus verändern", lautet eine weitere Replik.
Immer wieder steht aber die Äußerung der Lehrerin im Mittelpunkt - "Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln hält, passiert einem nichts". Dies "jungen Menschen mit auf den Weg zu geben, ist eine Schande", heißt in einem Kommentar im sozialen Netzwerk Facebook. Ein anderer Leserbriefschreiber meint, solch ein Satz "ist nicht zu entschuldigen und erfordert Konsequenzen".
Der Vorfall an der Stendaler Schule zieht inzwischen Kreise bis in die Landespolitik. Der Bildungsausschuss des Landtags wird sich am nächsten Mittwoch auf Antrag der Grünen mit dem Thema befassen. Das Kultusministerium soll "über DDR-Rezeption in Schulen in Sachsen-Anhalt im Allgemeinen und insbesondere über den Vorfall in der Comenius-Ganztagssekundarschule in Stendal" berichten. So fragen die Grünen danach, wie das Ministerium den Vorfall beurteilt und welche Konsequenzen daraus gezogen werden können, "um in der Zukunft solche Vorfälle zu unterbinden". Die Fraktion will zudem wissen, ob hier ein Einzelfall vorliegt oder ob dieses Beispiel "bei vielen Lehrerinnen und Lehrern weit verbreitet ist".
Einen Tag zuvor will Edith Braun (SPD), Vorsitzende des Schulausschusses des Stendaler Kreistages, das Thema in dem Gremium ansprechen. Für sie ist "diese nebulöse Selbstwahrnehmung der Diktatur DDR nicht hinnehmbar". Braun selbst hat erfahren, "wie mit Andersdenkenden, die nur Reformen wollten", umgegangen worden ist: "Auf dem Höhepunkt meiner beruflichen Entwicklung, wurde ich durch elf Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit als konterrevolutionäres Element denunziert, fristlos aus dem Staatsapparat entlassen und es wurde mir viel Angst gemacht."
Grafe liest heute wieder in Stendal
Heute Vormittag ist Roman Grafe übrigens wieder in Stendal. Der Autor liest vor Schülern des Fachgymnasiums an der BBS II aus seinem Buch "Die Schuld der Mitläufer". Schul-Koordinator Jens Schößler hat ihn eingeladen. Von Grafe erhofft sich Schößler für seine Schüler "einen Zugewinn an Wissen über die DDR-Geschichte". Der Geschichts- und Politiklehrer ist der Überzeugung, dass das Thema viel zu spät unterrichtet werde, "weil laut Rahmenrichtlinien chronologisch vorgegangen wird".
Dem Pädagogen wurde dies einmal mehr klar, als seine Tochter - eine Fünftklässlerin - neulich fragte, wo er und seine Frau denn aufgewachsen seien, "in der BDR oder so ähnlich?". Für ihn zeigt dies, "wie weit die deutsche Teilung für unsere Kinder weg ist. Wir haben unserer Tochter dann erklärt, wie das mit der Teilung kam, wo wir bis zur Wiedervereinigung aufgewachsen sind und welche Unterschiede das geteilte Deutschland aufwies."
Das Land fördert Schülerfahrten zur Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn und in die ehemaligen Stasi-Gefängnisse Roter Ochse in Halle oder Moritzplatz in Magdeburg. Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) will in der nächsten Woche in einem Brief an alle Schulen "auf Möglichkeiten eines lebendigen Geschichtsunterrichtes an außerschulischen Lernorten hinweisen", erklärt sein Sprecher Martin Hanusch. "Unabhängig von der Diskussion in Stendal", wie Hanusch betont.